Weiter.
von Thomas Jonigk
Roman.
Literaturverlag Droschl
Wien-Graz 2020, www.droschl.com

„Liebe ist etwas, das sich der Sprache verweigert, eine amorphe Kraft, die sich jeder Beschreibung entzieht. Aber ihre Abwesenheit ist real.“


Wie ist es möglich,
glücklich zu sein? Das ist die zentrale Frage, mit der sich die beiden Protagonist*innen aus Weiter. auseinandersetzen. Nehmen wir Veronika: Sie war in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt und Lieblosigkeit ausgesetzt, wovon wir auf den ersten Seiten des Romans erfahren. – Und nehmen wir Robert: Er wurde gerade von seinem langjährigen Partner verlassen, der sich in eine Amour fou mit einem 18-Jährigen gestürzt hat. Aufgelöst und am Boden zerstört trifft er im Mai 1986 in einem Westberliner Café auf Veronika. Von da an geht es aufwärts, es kommt Hoffnung auf – es geht weiter.
Veronikas harte Schale beginnt zu bröckeln, und Roberts Ballast fällt langsam von ihm ab. Die beiden Unbekannten ziehen sich gegenseitig aus der Misere. Nach und nach nehmen ihre Wünsche und Sehnsüchte Gestalt an: ein Leben mit Liebe, Sicherheit und Geborgenheit. Veronika und Robert müssen ihr Leben in die Hand nehmen: Was können sie für sich tun? Und: Wofür entscheiden sie sich?

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Romanauszug

Romanauszug – Weiter

WEITER. (Auszug aus Kapitel 2)

Veronika beschließt, nach Hause zu gehen. Dort wird Helga (mit rasselndem Atem, halb geschlossenen Augen und offener Bluse, aber ansonsten vollständig bekleidet) im Bett liegen und schlafen. Das Wort Schlaf trifft es eigentlich nicht; es handelt sich mehr um einen Abfall ins Funktionsunfähige. Das Erbrochene neben ihrem Kopf bzw. auf dem Kopfkissenbezug ist wahrscheinlich senffarben gewesen, mit festen Stücken durchsetzt und hat einen fauligen, beißenden Gestank im Raum verbreitet; Veronika weiß aus unfreiwilliger Erfahrung, dass in den nächsten zwei bis drei Stunden (glücklicherweise) nicht mit ihrer Mutter zu rechnen ist.
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Veronika verlässt das Zimmer und schließt die Schlafzimmertür hinter sich. Beim Durchqueren der Küche fällt wieder einmal die fast sterile, jedes Leben abtötende Sauberkeit des Raumes auf, darauf legt Helga Wert, selbst, wenn sie noch so zugesoffen ist, schafft sie es, Spülbecken, Schrankoberflächen, den Linoleumboden, Kühlschrank und Elektroherd mikroskopisch sauber aussehen zu lassen. Ein Raum wie ein Schaufenster, eine Ausstellungsfläche: unbenutzt, menschenleer, abgeschirmt von der Außenwelt, zehntausend Kilometer unter der totenstillen Meeresoberfläche. Ich imaginiere, skizziere, rekonstruiere Veronika, sie schmiert sich eine Scheibe Brot mit Butter und grober Leberwurst und trinkt ein Glas Apfelsaft, wäscht und trocknet Glas, Messer und Teller ab und stellt alles wieder an seinen Platz. Anschließend geht sie in das Badezimmer und schließt die Tür hinter sich ab. Sie zieht ihre Hose, dann ihre Unterhose herunter und stellt fest, dass diese blutig ist. Ihr Schritt. Die Innenseite ihrer Oberschenkel. Dunkles, dickflüssiges Blut: Genau das hat Veronika schon seit einiger Zeit erwartet bzw. befürchtet: Die von ihr verleugnete Weiblichkeit greift mit aller Kraft von innen heraus Raum und pfercht Veronika in den Körper einer unterwürfigen, geschlechtsreifen, fruchtbaren Frau ein. Einer Frau, die bei dem, was ihr Vater immer und immer wieder mit ihr gemacht hat, zu allem Übel auch noch einen Orgasmus haben muss. Und schwanger wird. Kindsmutter. Helga. Nein, weiter kann Veronika auf keinen Fall denken, sie greift zu den unter dem Waschbecken befindlichen Putzmitteln, Essigreiniger, vielleicht Dor oder auch Domestos (wenn es das 1976 in Deutschland schon gab), spritzt etwas davon auf ein paar Blätter Toilettenpapier und reibt damit so lange über ihren Bauch, ihr Geschlecht und ihre Schenkel, bis kein Blut mehr zu sehen ist. Das scharfe Putzmittel brennt auf der Haut, den Schamlippen und an den abgekauten Stellen um die Fingernägel herum, aber das hält Veronika nicht davon ab weiterzumachen. Für einen trügerischen Augenblick hofft sie, der ihr selbst zugefügte Schmerz könne jede in Gang gesetzte Veränderung ihres Körpers wegätzen, eine Art grundlegende Abtreibung alles Weiteren bzw. Weiblichen und Helgahaften in ihr bewirken, aber dann bricht sie die Aktion ab und fängt an zu weinen. Veronika weint. Und die Tränen sind nicht durch Essigreiniger, Dor oder Domestos ausgelöst worden, nein, Veronika weint, weil sie weiß, dass es vorbei ist. Widerstand ist zwecklos: Das, was sie sich unter Einsatz aller Kräfte als Ich – als Identität – erarbeitet hat, wird durch eine alles dominierende Biologie ersetzt. Veronika wird ersetzt. Abgeschafft. Was heißt das konkret? Veronika wird sich einreihen, sein wie alle anderen, wie Ermine Fest, geborene Graumann, Helga Kuschinszki, geborene Fest, und all die vollbusigen, hochhackigen, nach Parfüm und Bodylotion und Apfelshampoo und Conditioner und Drei-Wetter-Taft und Kaugummi mit Erdbeergeschmack und Gebärbereitschaft und Fruchtbarkeit stinkenden Mädchen in ihrer Klasse, allen voran die sich aggressiv auf Primärreize reduzierende Evelyn Schauer (16), aber auch Jutta Kübler (15), die wie ein Trüffelschwein auf die Suche nach einem potentiellen Lebenspartner gewesen und mit Burkhard Stenz (Sitzenbleiber, 17) viel zu schnell fündig geworden ist. In puncto Körpergröße ist er ihr um fünfzehn Zentimeter überlegen; intellektuell, seine Schulleistungen, seinen Humor, sein Ausdrucksvermögen und seine äußere Erscheinung betreffend kann er ihr (wie Veronika findet) nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen – und das sagt (angesichts von Juttas ziemlich beschränktem Horizont) einiges. Trotzdem: Jutta schmückt sich mit ihm, präsentiert ihn wie eine Auszeichnung, für sie verkörpert er sechs Richtige mit Zusatzzahl, das Bundesverdienstkreuz, an seiner Seite wird sie Miss Germany oder Bravo-Girl 1977, zumal sie immer schon gefunden hat, dass die Vorjahressiegerin Ulrike Grätz aus Puchheim/Bayern (16) total hässlich ist, keine Zierde ihres Geschlechts, ganz im Gegensatz zu ihr, zur neben ihrem Burkhard aufgewerteten Jutta: Sie strahlt Stolz, Selbstachtung, Kinderliebe, Fürsorge und Ernst aus, unglaublich, sie leuchtet vor Bedingungslosigkeit und Hingabe an die Mittelmäßigkeit ihres Partners und ihres Schicksals: endlich festgelegt. Endlich auf der Zielgeraden. Endlich deckungsgleich mit der ihr zugewiesenen Rolle, die sie – wie unzählige Generationen von Frauen vor ihr – dankbar annimmt. Sie besteht geradezu darauf. Sie tut alles dafür, der vorhersehbaren Unterforderung gerecht zu werden. Der vorgeschriebene Weg, den sie, nur mit Halbwissen ausgestattet über das, worauf sie um nichts in der Welt verzichten will, vorwärtsschreitet, ist der einzig Richtige: Jutta Stenz, geborene Kübler, sagt sich, dass sie diesbezüglich nicht die geringsten Bedenken zu haben hat. Das ist ihre Aufgabe und dieser – nimmt sie sich vor – wird sie die nächsten Jahrzehnte über gerecht werden. Veronika drückt es einfacher aus, zynischer, wie es ihre Art ist: Menstruation, Menopause, mausetot. Menstruation, Menopause, mausetot. Menstruation, Menopause, mausetot. Natürlich weiß sie, dass Frauen manchmal auch Ausnahmen sind, immer wieder hat sie versucht, Alice Schwarzer zu lesen, Betty Friedan, Doris Lessing, Virginia Woolf und Sylvia Plath. Aber das sind Phantome, Buchseiten, Fiktionen, das extrem schwache Echo aus der Tiefe eines Abgrunds, vage, diffus, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht real. Und ins Wasser zu gehen oder den Gashahn aufzudrehen, den Kopf in den Backofen zu stecken, das ist nichts für Veronika, die blockiert ist, wie ausradiert, keine Strategie im Kopf, nichts. Was jetzt? Wie weiter? Warum überhaupt bis hierhin? Und die am schwersten zu beantwortende Frage: Wohin? Instinktiv blickt Veronika auf zur Badezimmerdecke, über der sie den Himmel vermutet. Beliebt, exklusiv, überbucht.
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Veronika stellt das Reinigungsmittel zurück unter das Waschbecken, wickelt die blutige Unterhose in Toilettenpapier ein, stopft sie ganz unten in den links von ihr stehenden Mülleimer, deckt sie mit Toilettenpapierrollen sowie zerknüllten Kosmetiktüchern ab, um sie (zumindest kurzfristig) vor Helgas Blick zu verstecken, zieht ihre Hose wieder hoch, betätigt die Toilettenspülung, geht zwei Schritte und bleibt vor dem Badezimmerspiegel stehen. Das Gesicht darin ist ungeschminkt, keine Ohrringe, kurz geschnittenes, ungepflegtes Haar und herabhängende Mundwinkel. Trotzdem kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass das Gesicht im Spiegel das Gesicht einer Frau ist. Dieser Tatsache entkommt Veronika nicht: Veronika Mustermann, geborene Kuschinszki, Tochter und anatomisches Ebenbild von Helga Kuschinszki, geborene Fest. Bilder von Freakshows, Kreißsälen, Gefängnis- und Gummizellen jagen durch Veronikas Kopf. Sie ballt ihre rechte Faust, aber die erprobte Geste überzeugt nicht mehr, die zusammengepressten Finger wirken kraftlos, die Gebärde überzogen, geliehen. Unrechtmäßig bzw. systematisch angeeignet vom anderen Geschlecht, dem starken, definitionsmächtigen.
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Die fast 15-jährige empfindet ihren Zustand als zum Kotzen, die ausgrenzenden Gesetzmäßigkeiten der Welt als fies bzw. totale Scheiße. Diese Sprache wird sie sich schon bald wieder abgewöhnen, nicht als Resultat einer bewussten Entscheidung, überhaupt nicht, rückblickend wird Veronika alles als schleichenden Prozess beschreiben, an dessen Ende sie stumm geworden ist. Keine Kraftausdrücke mehr: Sprachlosigkeit. Schweigen. Die Wörter entziehen sich, werden schemenhaft, verwaschen wie das ehemals khakifarbene T-Shirt das sie zu ihrem 10. Geburtstag von Tante Evelyn geschenkt bekommen hat.
Undeutlich wie die dahindämmernde Welt vor dem Ende.
Sprache insgesamt: Ihre Anwendung kommt Veronika immer problematischer bzw. absurder vor, der Sinn der Wörter und aus Wörtern zusammengesetzten Sätzen entzieht sich ihr. Veronikas Dilemma (bewusst abstrakt formuliert): Die zunehmende Unverständlichkeit der Wörter führt zu einem anwachsenden Gefühl von Sinnlosigkeit im Moment ihres Aussprechens. Hierfür zwei Beispiele: Warum Nein sagen, wenn trotzdem geschieht, wogegen man sich entschieden hat? Und Beispiel Nr. 2: Warum Ich, wenn zwischen Veronika, Helga, Ermine, der dicken Birgit, Tante Evelyn, Jutta Kübler und Evelyn Schauer kein erkennbarer Unterschied besteht? Veronika fühlt sich ihrer Sprache enteignet. Ihrer Realität. Ihrer Wahrnehmung. Ihrer Logik. Zuerst hat sie gedacht, dass all das nichts anderes als eine Verkettung unglücklicher Umstände ist, ein wieder mal echt ätzender Tag, ein vorbeiziehendes Tief. Pech gehabt. Zufall (vielleicht). Jetzt aber ist sie sicher, dass es sich um eine Verschwörung handelt, um irgendeine von langer Hand vorbereitete Übereinkunft mit dem Ziel, Veronika ihres Körpers, ihres Ausdrucks und des von ihr beanspruchten bzw. anvisierten Raumes zu berauben. Dessen, was sie früher unhinterfragt als freien Willen bezeichnet hätte. So jedenfalls wird sie es in sechs bis sieben Jahren ausdrücken. Außerdem wird sie (wie immer bei diesem Thema) die Augen verdrehen und ein bitteres Lachen ausstoßen: Als erwachsene Frau weiß sie natürlich, dass es den freien Willen nicht gibt, er ist nichts als eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, eine Propaganda- bzw. Illusionsmaschine, die Entscheidungskraft und Spielraum vorgaukelt. Aber nichts davon existiert. Hinter der vorgetäuschten (Entscheidungs-)Freiheit lauert das Leben und schnürt Veronika die Kehle zu, sobald sie überlegt, Nein oder Ich oder Ich will oder Ich will nicht sagen zu wollen.
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ISBN 978-3-99059-047-8, Literaturverlag Droschl Wien – Graz 2020

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