Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken

Kurzbeschreibung

Rottweiler

Kurzbeschreibung

 

Du sollst mir Enkel schenken

Kurzbeschreibung

 

Taeter

Kurzbeschreibung| Stückauszug 8. Szene

 

Die Elixiere des Teufels

Kurzbeschreibung

 

Liebe Kannibalen Godard

Kurzbeschreibung

 

Heliogabal

Kurzbeschreibung

 

Hörst du mein heimliches Rufen

Kurzbeschreibung| Stückauszug 1. Szene

 

Diesseits

Kurzbeschreibung| Stückauszug Szene 1-3

 

Donna Davison

Kurzbeschreibung| Stückauszug 1. Szene

 

Martin Salander

Kurzbeschreibung

 

Ach, da bist du ja!

Kurzbeschreibung

 

Weiter träumen

Kurzbeschreibung| Stückauszug 19. Szene

 

Der Sandmann

Kurzbeschreibung | Stückauszug Szene 1-4

 

Hotel Capri

Kurzbeschreibung | Stückauszug

 

„Kill the Bugger!“

Kurzbeschreibung

 

Ungeduld des Herzens

Kurzbeschreibung | Stückauszug

 

Es begab sich aber zu der Zeit

Stückauszug

 

Phaedra

Stückauszug

Rottweiler

Eine Mutter besucht am 20. April, ihrem höchsten Feiertag, ihre alleinlebende und unterdrückungswillige Tochter.

Unerwartet erscheint ein Bekannter der Tochter, den die Mutter sofort für sich zu vereinnahmen weiß. Der forcierte erotische Austausch führt bei ihm zu wilden Potenzfantasien und einem sprachlichen Blut-und-Boden-Rausch, der mit der Beinahe-Vergewaltigung der Mutter endet, ein ritueller Akt, aus dem alle national und familiär gestärkt hervorgehen.

Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken

Groteske: Vater, Mutter, Tochter und Dienstmädchen Renzi: Der Vater schlägt die Mutter und vergreift sich an der Tochter, die Mutter schlägt die Tochter, die Tochter köpft im Garten die Rosen. Und am Ende zieht der Vater in den Krieg, weil er nur noch dort als Mann Sinn macht und Platz hat.

Du sollst mir Enkel schenken

Eisern versucht eine Mutter, ihren Sohn zur Heirat und damit zur Erfüllung ihres Wunsches nach Familienzuwachs zu bewegen.

Der Soziologiestudent im 27. Semester ist jedoch nur dem eigenen Geschlecht zugetan und ekelt sich vor »unbekannten Befruchtungsobjekten«. Alle mütterlichen Druckmittel verfehlen ihre Wirkung. Ein bigotter katholischer Pfarrer präsentiert eine übermäßig dicke Heiratskandidatin mit dem biblischen Namen Maria. Unter der Bedingung, sich aus der Familienumklammerung lösen zu dürfen, ist der Sohn zu einer natürlich kinderlosen Heirat bereit.

Als die Mutter nicht aufhört, ein Ende der »Enkellosigkeit dieser Familie« einzufordern, greift der verzweifelte Sohn schließlich zum Elektromesser, um sich zu entmannen.

Täter

Petra wird seit Jahren von ihrem Vater Erwin mißhandelt, und ihre Mutter Karin sieht weg.

Magda vergewaltigt ihren Sohn Paul, doch niemand interessiert sich für seine Hilfeschreie.

Das Schicksal, das die beiden Kinder teilen, führt sie zusammen, und gemeinsam versuchen sie mehr oder weniger erfolgreich, den Mißbrauch durch ihre Eltern zu stoppen. Sie angesichts der Unaussprechlichkeit ihres Vergehens zur Rede zu stellen, ist erst nach vielen Ansätzen möglich; die Sprachlosigkeit ist schwer zu überwinden, und das Benennen des Ungeheuerlichen bringt schließlich sogar die Form des Dramas zum Wanken.

Die Elixiere des Teufels

Ein Lebensbericht wie eine Beichte. Der Mönch Medardus weckt durch den Genuß des Teufelselixiers, einer ihm anvertrauten Reliquie, sinnliche Begierden in sich.

Von seinem Prior in geistlicher Mission nach Rom geschickt, bricht er sein Gelübde und stürzt sich in die abenteuerliche Irrfahrt des weltlichen Lebens. Wahnsinnig vor Lust und Leidenschaft mordet er, gibt sich als ein anderer aus, mordet wieder. Auf seiner Flucht gelangt er zu einem einsamen Forsthaus, in dem ihm ein wahnsinniger Mönch entgegentritt – sein Doppelgänger, der von nun an seinen Weg kreuzt.

Als er verhaftet wird, gesteht sein Doppelgänger die Tat und geht für ihn ins Gefängnis. Medardus muß erfahren, daß seine Opfer seine Stiefgeschwister waren, daß er einem durch Mord, Inzest und Ehebruch gezeichneten Geschlecht angehört. Was wahre Liebe ist, die »nichts gemein hat mit irdischer Lust«, erfährt er viel zu spät.

Liebe Kannibalen Godard

»Der Mensch der Gegenwart ist eine Ware, eine Ware, die konsumiert und deshalb produziert werden muß. Ware konsumiert Ware, das ist abartig, das ist staatlich, das ist Kannibalismus. Das könnt ihr haben.« Corinne und Roland, ein wohlhabendes junges Paar, fahren übers Wochenende von der Stadt aufs Land. Ziel ist Oinville, wo Corinnes Vater im Sterben liegt.

Um an das Millionenerbe zu gelangen, sind den beiden alle Mittel recht – von der einfachen Intrige bis zu den diffizilsten Mordversuchen. Doch ihr Weg wird zu einer Odyssee durch eine Schreckenswelt: Menschen am Rande der Zurechnungsfähigkeit setzen jede geltende Regel außer Kraft, Massenkarambolagen, Hinrichtungen, Gewalt und Zerstörung haben die Zivilisation erobert. Dieses »Wochen-Ende« wird zu einer Geschichte des Untergangs. Den hochgezüchteten, markenbewußten Städtern entzieht sich das Menschsein, ihr Weg endet in Selbstzerstörung und Kannibalismus.


Heliogabal
Wie Michael Jackson eine millionenschwere Fangemeinde hat der vierzehnjährige Jungkaiser Heliogabal Rom im Sturm genommen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde er den Römern, was Marlene Dietrich den Deutschen war: nationaler Feind Nr. 1, Blasphemie, Provokation, Arroganz, politischer Verrat, sexuelle Ausschweifung und Homosexualität lautete die Anklage. Die Grenze zwischen geschichtlichen Fakten und vernichtender Fiktion verschwimmt.Aber so viel ist klar: Was damals ein Kaiser war, ist heute ein Superstar. Ein Nichts-Sagender, dem vieles nachgesagt werden darf. Aber auch ein Jasager, der allen zusagt. Er dient dem Volk als Projektionsfläche und stiftet Identität. Damit tritt er eine schwere Gratwanderung an: Farbloser Durchschnitt ist den Fans zu wenig, zu alltäglich, zu ähnlich. Doch überdurchschnittliche Begabungen frustrieren sie. Also darf der Superstar die Möglichkeit des Außergewöhnlichen nur manchmal aufscheinen lassen, um damit die Normalität seiner Anbeter nicht nur erträglich, sondern erstrebenswert erscheinen zu lassen. Britney Spears, gleichzeitig Jungfrau aus Überzeugung und zungenrollende Sexschlampe, weiß davon ein Lied zu singen. Dazu braucht sie nicht mal eine Stimme. Die wird ihr von der Industrie verliehen. Aber da sie als Mächtige gleichzeitig Instrument der Macht ist, kann ihr das Stimmrecht wegen zu hohen Alters oder zu geringer Verkaufszahlen schnell wieder entzogen werden. Und genauso erging es Heliogabal.

Hörst du mein heimliches Rufen
Ein erfolgreicher Geschäftsmann aus dem Bereich der Rüstungsindustrie wird unerwartet entlassen. Als auch sein Privat- und Familienleben außer Kontrolle geraten, greift der Mann kurzentschlossen zur Waffe, um seinem Leben auf dem heimischen Sofa ein Ende zu bereiten. Als ihn die Angst vor der eigenen Zivilcourage packt, sieht er sich plötzlich mit einem Engel konfrontiert, der gekommen ist, ihn zu holen.Unerbittlich und nicht ohne Schadenfreude gewährt er dem Mann eine Gnadenfrist, zum Erinnern und zum Träumen. In der Schwebe zwischen Wahn und Wirklichkeit erlebt ein moderner Jedermann einen grotesken, schwindelerregenden Bilderreigen, der einmal sein Leben war.

Diesseits
Paula hat einen Gehirntumor. Ob er bösartig ist oder nicht, wird sich beim nächsten Arztbesuch herausstellen. Mit der drohenden Diagnose vor Augen erscheint Paula die eigene Biografie wie eine Bankrotterklärung: Sie hangelt sich von Job zu Job, lebt allein, kinderlos, erfolglos und ohne Aussicht auf Besserung.In dieser Situation tritt ihr Vater in ihr Leben – ihr Vater, der vor mehr als zwanzig Jahren gestorben ist. Und der Bestattungsunternehmer, in dessen Laden sich Paula vorsorglich schon einmal umgesehen hat, scheint durchaus das Potential zum Liebhaber zu haben.

Donna Davison
Donna Davison ist eine gefeierte Pornodarstellerin – sie ist der absolute Star des Business und mittlerweile so bekannt, dass es für ihr erstes seriöses Filmangebot reicht.Ziel der toughen Regisseurin des Films: das Bildnis der Pornodarstellerin als selbstbewusste Frau. Donna soll vor allem Donna spielen – Hardcoreszenen mit ihrem Pornodrehpartner Tom Donkey inklusive. Begeistert willigt sie ein, denn dass sich Porno und (weibliche) Selbststimmung keinesfalls ausschließen, dafür steht sie auch im richtigen Leben. Die Rolle des verschmähten Verehrers wird von Jan Friedberg gespielt, einem berühmten Schauspieler, den Donna schon seit langem bewundert.Das Problem ist nur, dass Friedberg nicht nur im Film, sondern auch im echten Leben Interesse an Donna hat. Die aber will, nach anfänglicher Liaison, schon bald nichts mehr von ihm wissen. Und auch ihre Begeisterung für die eigene Rolle nimmt ab, was auch an der Regisseurin liegt, die keinerlei Einwände bezüglich des Drehbuchs duldet. Hinzu kommt, dass Friedberg in seinem Versuch, Donna zurückzugewinnen, immer manischer agiert. Mehr und mehr verschwimmen die Ebenen zwischen der Realität und dem Geschehen am Film-Set.

Martin Salander
Eine freie Bearbeitung des Kellerschen Romans: Martin Salander verliert bei einer Bürgschaft für seinen alten Jugendfreund Wohlwend sein gesamtes Vermögen und geht deshalb aus der Schweiz fort nach Brasilien, um dort sein Glück zu machen. Nach sieben Jahren kehrt er zu seiner Hunger leidenden Frau Marie, seinem Sohn Arnold und seinen beiden Töchtern Netti und Setti zurück. Doch wieder ist sein in Brasilien erwirtschaftetes Geld verloren, denn die Bank, der er das Geld anvertraute, gehört ausgerechnet seinem Freund Wohlwend.Noch einmal geht Salander ins Ausland und kehrt nach drei Jahren reich zurück. Marie ist misstrauisch, wie er an das viele Geld gekommen ist: Beschäftigt ihr Mann Sklaven auf seinen Kaffeeplantagen? Die Familie Weidelich, die Marie und die Kinder früher noch verhöhnt hatte, sucht jetzt die Nähe der Salanders. Ihre Zwillinge Julius und Isidor sollen die reichen Salandertöchter heiraten. Marie ist entsetzt von den geldgierigen Schwiegersöhnen, kann sich jedoch nicht durchsetzen.Julius und Isidor gehen in die Politik, um ihr Vermögen noch zu vergrößern, und auch Salander nimmt die Wahl zum Landrat an. Netti und Setti erkennen schließlich, wie „seelenlos“ ihre profithungrigen, Singvögel bratenden Ehemänner sind, die nach kurzer Zeit wegen Korruption und Betrug im Gefängnis landen.Auch Wohlwend ist wieder aufgetaucht und Salander lässt sich zum Leidwesen seiner Frau ein letztes Mal von ihm einwickeln. Salander verguckt sich in die Schwester von Wohlwends junger Frau, eine bildhübsche, aber wie sich herausstellt schwachsinnige Ungarin. Als Salanders Sohn Arnold aus Brasilien, wo er die Familiengeschäfte überwacht hat, heimkommt, stellt er seinem perplexen Vater die Ungarin als seine Verlobte vor. Wohlwend, der die Salanders zweimal in den Ruin getrieben hat, gehört durch diese Heirat nun praktisch zur Familie.Martin Salander, der vorgeblich für Heimatland, Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit kämpft, sieht sich selbst als Gutmensch. Möglicherweise steht er seinem betrügerischen Freund Wohlwend – den er nie anzeigte – im skrupellosen Geschäftemachen aber in nichts nach. Marie ist zwar kritisch gegenüber ihrem Mann, verschließt jedoch die Augen vor allem, was problematisch sein könnte.Die Zwillinge Isidor und Julius dagegen geben offen zu, wie verkommen ihre Moral ist: „Den einzigen Vorwurf, den wir uns machen, ist, erwischt worden zu sein.“ Dieses zynische Geständnis könnte auch von heutigen Managern stammen.

Ach, da bist du ja!
Ein Mann und eine Frau treffen aufeinander, geraten sofort in einen Ehestreit und stellen dann fest, dass sie gar nicht verheiratet sind – sie haben sich verwechselt.Nachdem das geklärt ist, verlieben sie sich ineinander und beginnen zusammen ein neues Leben.Die Geschichte, die sich aus dieser Grundsituation entwickelt, ist der Stoff für eine absurde Liebeskomödie, in deren Verlauf die Protagonisten leider nicht viel zu lachen haben.

Weiter träumen
Weihnachten. Karl Bockmann liegt im Koma. Seine Frau Silvia sitzt seit drei Tagen auf der Intensivstation und wartet auf das Erwachen ihres Mannes. Doch ob er das tun wird oder ob gesundheitliche Schäden zurückbleiben werden – diese Fragen geistern als Schreckgespenster durch ihren Kopf. Am meisten aber erschreckt sie, als ihr klar wird, dass sie Angst hat, ihr Mann könne als genau der wieder aufwachen, der er in den zweiundreissig Jahren ihrer Ehe schon viel zu lange gewesen ist. Nicht, dass sie um seine Affairen und ihre auf der Strecke gebliebenen Bedürfnisse und Leidenschaften im Rahmen einer immer routinierter gewordenen Zweierbeziehung nicht gewusst hätte: die empfundene Distanz zu ihrem Mann ist grundsätzlich und schlagartig nicht mehr aushaltbar.Der Weg zurück in einen Kompromiss wird durch das Auftauchen des merklich jüngeren Hans nicht eben leichter. Schon nach kürzester Zeit gesteht er der überrumpelten Silvia seine Liebe und plant eine gemeinsame und aufregende Zukunft voller Leidenschaft, Erotik und Sexualität. Also mit allem, was Silvia in ihrem Leben seit langer Zeit vermisst und sich aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr eingestanden hat. Die Tatsache, dass Hans aufgrund eines Selbstmordversuches eingeliefert wurde und auch sonst in manchen Widerspruch verstrickt ist, führt auf Silvias Seite zu immer grösserer emotionaler Überforderung. Und ruft gleichzeitig nach Entscheidungen.Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Traum, Koma und Wachzustand. Es kommt zu Begegnungen mit anderen Menschen – vor allem Frauen – deren Sehnsüchte sich zu ähneln scheinen, auch wenn ihre Lebensmodelle komplett unterschiedlich sind. Wie somnambule Traumgestalten wandeln die Figuren über die Flure der Station und konfrontieren sich gegenseitig mit ihren Lebensträumen und -lügen. Bis es schließlich zur Aussprache zwischen Silvia und dem erwachten Karl kommt – doch ist Karl wirklich wach?
Der Sandmann. Synopsis
Der Schriftsteller Nathanael befindet sich in einer Schaffens- und Lebenskrise. Er arbeitet an dem autobiographischen Roman „Der Sandmann“. Im Zentrum des Romans stehen einerseits die Verarbeitung des frühen Verlusts seines Vaters, andererseits die Beziehung zu seiner Freundin Clara. Mittlerweile wird er von Angst- und Wahnvorstellungen heimgesucht, in denen immer wieder sein Vater und dessen unheimlicher Freund Coppelius auftauchen. Als Kind hatte Nathanael beobachtet, wie sein Vater, der Leichenbestatter war, gemeinsam mit Coppelius eine Frauenleiche sezierten. In derselben Nacht brannte sein Elternhaus nieder, und man fand am nächsten Morgen die kaumnoch identifizierbaren Überreste von Nathanaels Vater und von Coppelius.
Nathanaels psychischer Zustand ist derart angegriffen, dass es für seine Clara kaum noch möglich ist, die Beziehung zu ihm aufrechtzuerhalten. Zu den Angstzuständen, die mit der Aufarbeitung seiner Kindheit zu tun haben, kommen für Nathanael auch die Verlustängste, die mit Clara zu tun haben. Clara, die Bankbeamtentochter, ist seine Muse, aber auch die einzige Person, durch die er noch etwas wie Realität erfährt. Doch Clara muss erfahren, dass Nathanael sie letztlich als unbequem empfindet. Im „Sandmann“ erzählt er von einer Clara, die er gleich auf der Seite 1 durch einen Unfall sterben lässt und dass er anschliessend mit dieser toten Clara den besten Sex seines Lebens hat. Die lebendige Clara zieht nun ihre Konsequenzen und trennt sich von Nathanael.
Da stellt ihm der Italiener Spalanzani seine Tochter Clarissa vor. Eine Frau, die stets „Ja“ sagt und das Wort „Nein“ aus ihrem Vokabular gestrichen hat. Nathanael ist hingerissen. Doch auch diese Frau wird ihm zum Albtraum. Angewidert tötet Nathanael die schöne Clarissa. Doch Spalanzani und sein Bruder erwecken sie wieder zum Leben, mit einer leicht veränderten Programmierung, die den Wünschen Nathanaels entgegenkommen soll. Auch Nathanaels Wünsche selbst können die Spalanzani-Brüder manipulieren.
Nathanael bricht zusammen. Er hält sich für tot und sieht schon vor sich, wie sein Jugendfreund Lothar seine Leiche findet. Als er wieder erwacht, steht Clara vor ihm. Sie ist zu ihm zurückgekehrt, möchte ihn von nun an in seiner Arbeit an dem Roman unterstützen, aber auch versuchen, seinen erotischen Wünschen mehr entgegenzukommen. Nathanael, noch gezeichnet von dem Clarissa-Erlebnis, traut ihr nicht mehr und spricht nun seinerseits die endgültige Trennung aus.
Wieder erscheinen ihm nun der tote Vater und Coppelius, die Erinnerungen an Clara und Clarissa überlagern sich. Angst- und Lebensträume werden für ihn zur unüberwindbaren Hürde. Nathanael stirbt. Epilog
Am Grab von Nathanael. Clara berichtet Lothar, dass Nathanael nicht mehr als ein paar zusammenhanglose Skizzenseiten zum „Sandmann“ zusammengebracht hat. Den Roman hat er nie geschrieben, der Roman wurde nie veröffentlicht, auch hat er sich nie von Clara getrennt. Als Clara noch für einen Moment allein an seinem Grab ist, sieht sie im Hintergrund Nathanaels toten Vater und Coppelius. Sie halten „Den Sandmann“ in ihren Händen.Text: Christof Loy
STÜCKAUSZUG | Der Sandmann (Szene 1- 4)
1.(Nathanael wacht schweissgebadet und schreiend auf. Sein Schrei geht in Worte über.)NATHANAEL: (nach aussen) Clara! Clara!(Clara kommt eilig hinzu. Sie ist eine attraktive, dabei etwas sachlich wirkende Frau mit hochgebundenem Haar. Als Nathanael sie sieht, rennt er auf sie zu und fällt in ihren Arm.)NATHANAEL: Clara. Clara.
CLARA: Ich bin da!
NATHANAEL: (verwirrt) Ist der Sandmann noch da?
CLARA: Mein Schatz. Du bist jetzt wach.(Er beruhigt sich langsam. Sein Körper entspannt sichtlich.)NATHANAEL: Er war wieder da…
CLARA: (wissend) ….dein Vater….
NATHANAEL: …und der andere…
CLARA u. NATHANAEL: ….der Sandmann…
NATHANAEL: …(seine Stimme verstellend) “Der Sandmann ist da…, der Sandmann ist da…“ haben sie gesagt…
CLARA:…identisch angezogen, wie Zwillinge….
NATHANAEL:…kaum zu unterscheiden….
CLARA: ….der eine hat einen Regenschirm gehabt und der andere…
NATHANAEL: …einen Wanderstab…(auffahrend) Woher weißt du das?(Veränderte Stimmung. Nathanael bekommt etwas Schroffes, Feindseliges, Clara versucht, ruhig zu bleiben.)NATHANAEL: (im direkten Anschluss zu oben) Du weißt mehr, als du sagst. Spionierst du mir nach? Du verheimlichst mir was. Machst du mit denen gemeinsame Sache? Clara, ich habe dich etwas gefragt!
CLARA: Nathanael. Du hast diesen Alptraum seit du versuchst, deinen Roman zu schreiben. Seit Monaten. Nacht für Nacht.
NATHANAEL: (plötzlich wieder verzweifelt) Das war kein Traum. Mein Vater. Der Sandmann. Die beiden waren da.
CLARA: Nathanael. Hör auf zu schreiben. Du bist kein Schriftsteller. Sieh das endlich ein.
NATHANAEL: (wütend) Warum glaubst du nicht an mich?
CLARA: Du wirst scheitern.
NATHANAEL: Ich werde dir das Gegenteil beweisen.
CLARA: (resolut) Du brauchst einen Arzt. (rufend) Lothar?
NATHANAEL: (wieder bedürftig) Das alles ist real.
CLARA: (wie oben) Lothar! Lothar!
NATHANAEL: Lass mich nicht allein.
CLARA: (sich entfernend) Es geht um deine Gesundheit. (wieder rufend) Lothar!
NATHANAEL: (sie aufhalten wollend, fast gleichzeitig) Clara!(Nathanael bleibt allein zurück. Er realisiert dies mit Schrecken.)2.(Identische Situation. Nathanael allein, sich sichtbar unwohl fühlend. Von hinten treten – von ihm zunächst unbemerkt – der VATER und COPPELIUS auf. Sie sind identisch angezogen, der Vater hält einen Wanderstab in der Hand, Coppelius einen Regenschirm. Sie sehen Nathanael schalkhaft an.)VATER u. COPPELIUS: (amüsiert) Der Sandmann ist da! Der Sandmann ist da!(Nathanael weicht entsetzt zurück.)

NATHANAEL: Lasst mich! Euch gibt es nicht!
VATER: (voll gespieltem Mitleid) Er ist verrückt.
COPPELIUS: Sieht Dinge, die nicht sind.
VATER: Ist das nicht traurig.
COPPELIUS: So ein junger Mensch.
VATER: Der das Leben noch vor sich hat.
COPPELIUS: Denkt er zumindest.
VATER: Und jetzt das.
NATHANAEL: (nach aussen) Clara. Clara.
VATER: Was hab ich nur falsch gemacht. Immer hab ich ihm Schläge auf den Hinterkopf gegeben. Denn die erhöhen das Denkvermögen. Immer habe ich ihm gesagt, dass er es sich zu leicht macht. Damit er es später nicht so schwer hat. Immer gesagt, dass er ein Wunschkind ist. Damit er sich daran gewöhnt, dass die Welt verlogen ist. Alles habe ich gemacht. (schlussfolgernd) Und jetzt das!
COPPELIUS: Einzelkinder sind immer schwierig.
VATER: Aber doch nicht verrückt!
NATHANAEL: (aufbegehrend) Das bin ich nicht!
VATER: Ach, ja?
COPPELIUS: Und warum redest du dann mit uns?
VATER u. COPPELIUS: Obwohl wir gar nicht da sind? Nicht real? Das hast du selbst gesagt. Zwei Erscheinungen in deinem Traum? Das hast du doch gedacht.
NATHANAEL: (sich die Ohren zuhaltend) Ich bin wach! Ich bin wach!
VATER: Zumindest glaubst du das.

(Nathanael erreicht einen Punkt höchsten Entsetzens; Vater und Coppelius sehen sich besorgt an. Dann geht der Vater auf Nathanael zu und nimmt ihn in den Arm. Dieser ist so geschwächt, dass er es geschehen lässt.)

VATER: (sanft) Schlaf, mein Kind, schlaf ein. Schlaf einen ruhigen, traumlosen Schlaf, einen behüteten, süssen, aus dem du morgen wieder erwachst. Voller Ruhe. Kraft. Und Zuversicht.
NATHANAEL: (ebenso) Vater.
VATER: Nathanael. Kannst du wieder nicht schlafen? Warum nicht. Ich sehe doch, dass du todmüde bist. Am besten ist, ich lese dir etwas vor, ein Fantasiestück, ein Märchen, irgendeine Geschichte, die gut für dich ausgeht. Und ehe du dich versiehst, ist der Sandmann da und streut Sand in deine Äuglein. Deine Lider werden schwerer und schwerer, bis er…
NATHANAEL: (übergangslos schroff) Fass mich nicht an.
COPPELIUS: Was hat er denn jetzt?
NATHANAEL: Du bist tot.
VATER: Sei nicht kleinlich.
NATHANAEL: (zu Coppelius) Und an den Sandmann glaube ich nicht.
COPPELIUS: Wie traurig. Neueste Studien beweisen nämlich, dass Kinder, die mit Märchen und Mythen aufgewachsen sind, phantasiebegabter und durchsetzungsfähiger werden als andere.
NATHANAEL: (am Rande des Zusammenbruchs) Das ist nicht die Realität!
VATER: (plötzlich sehr ernst) Coppelius. Erzähl ihm, was der Sandmann mit denen macht, die ihn verleugnen.
NATHANAEL: (höhnisch, dann immer hysterischer) Was denn? Ihnen Sand in die Augen streuen, bis sie erblinden? Sie mit Alpträumen plagen? Mit Krankheiten oder Wahnsinn? Mit Schuldgefühlen und Paranoia? Quält er seine Opfer Tag für Tag, Nacht für Nacht, jede einzelne Minute ihres Lebens?
VATER: (nach einer Pause, trocken) Im Gegenteil.
COPPELIUS: (seinen Regenschirm auf Nathanael richtend) Er macht kurzen Prozess.

(Coppelius feuert zwei bis drei Schüsse aus seinem Regenschirm ab. Nathanael fällt getroffen zu Boden.)

NATHANAEL: (schwach) Vater…
VATER: (zu Coppelius) Noch einmal.

(Coppelius schiesst erneut auf Nathanael, der tot zusammenbricht. Die beiden sehen ihn kopfschüttelnd an.)

VATER: Von guter Kinderstube keine Spur.
COPPELIUS: Alles eine Frage der Erziehung.
VATER: Du meinst, das wäre meine Aufgabe gewesen.
COPPELIUS: Wir wollen nicht streiten.

(Sie gehen ab.)

3.

(Identische Situation. Nathanael liegt tot am Boden. Clara mit LOTHAR dazu.)

CLARA: (mit Blick auf Nathanael) Er schläft.
LOTHAR: Ein gutes Zeichen.
CLARA: Er wird wieder Alpträume haben. Vom Sandmann. Und seinem Vater.
LOTHAR: Alles wäre einfacher, hätte man damals die Leichen der beiden gefunden.
CLARA: Aber man hat sie doch aufgrund ihrer Knochen identifiziert.
LOTHAR: In Nathanaels Kopf leben sie weiter. In seiner Phantasie.
CLARA: Seit Monaten beschäftigt er sich nur noch mit seiner „schrecklichen“ Kindheit. Und glaubt, er sei Künstler. (skeptisch) Schriftsteller!
LOTHAR: Traumata haben eine lange Lebensdauer.
CLARA: Sein Vater war Leichenbestatter! Meiner war Bankbeamter! Das ist mindestens genauso schlimm.
LOTHAR: Was ist mit dem tragischen Unfall?
CLARA: Er lebt in seinem Drama. Und ich in der Realität. Wie soll das zusammen gehen?
LOTHAR: Ich dachte, du liebst ihn.
CLARA: (besorgt) Und wenn er den Verstand verliert?

(Vater und Coppelius treten mit geheuchelter Betroffenheit dazu. Clara und Lothar blicken traurig auf Nathanael.)

COPPELIUS: Du hörst es. Die Kindheit im Bestattungsinstitut hat deinem Kind nicht gut getan.
VATER: Ich wollte nicht, dass er uns bei der Arbeit sieht.
COPPELIUS: Trotzdem hat er sich heimlich eingeschlichen.
VATER: Und uns zwei gesehen.
COPPELIUS: Über das Gesicht einer Frauenleiche gebeugt.
VATER: Beim Modellieren ihres Kiefers.
COPPELIUS: Keine Ahnung, wonach das für den Kleinen ausgesehen hat.
VATER: Bei seiner verdorbenen Fantasie.
COPPELIUS: Du hättest ihn nicht mit der Kohlenschaufel schlagen dürfen. Das war zu hart.
VATER: Man muss Kindern klare Grenzen setzen.
COPPELIUS: Komm mir jetzt nicht mit Pädagogik. Hättest du ihn nicht geschlagen, wäre der Junge nicht gegen die Lampe gestossen. Mit etwas mehr Verständnis deinerseits, wäre das Haus nicht abgebrannt. Du nicht tot. Und ich auch nicht.
VATER: (amüsiert) Du wirkst kein bisschen tot auf mich.
COPPELIUS: (ebenso) Du auch nicht.
LOTHAR: (Clara in den Arm nehmend) Am besten ist, wir lassen ihn schlafen.
CLARA: (traurig) Ich werde später nach ihm sehen.

(Lothar ab. Coppelius und Vater sehen sich kopfschüttelnd an.)

COPPELIUS: Die glauben tatsächlich, dass er wieder aufwacht.
VATER: Träumt weiter.

(Sie gehen Lothar hinterher. Clara bleibt in einer Entfernung von Nathanael zurück.)

4.

(Identische Situation, Nathanael am Boden. Clara nähert sich vorsichtig.)

CLARA: Nathanael? Wie lange willst du noch schlafen? Du regst dich nicht. Siehst mich nicht. (kurze Pause) Du sagst, du liebst mich. Was meinst du damit? Dass ich da bin, dich nicht verlassen habe wie deine Freunde, wie dein Vater? Meine Schönheit? (kurze Pause) Nein. Das meinst du nicht. (kurze Pause) Liebe. Ein grosses Wort. Das alles ist. Und alles gleichzeitig bedeutet. Du brauchst mich. Begehrst mich. Magst mich. Du hast dich an mich gewöhnt. Du erträgst die Einsamkeit ohne mich nicht. Den Alltag. Das Leben. Die Erinnerung. Die Ablenkung. Den Abgrund. Und meine Anwesenheit macht es leichter. Ist es das, was wir im Kopf haben, wenn wir „Liebe“ sagen? (ernst) Nathanael. Ich habe mich für dich entschieden. Ist das Liebe?

(Ruckartig und ansatzlos erhebt Nathanael seinen Oberkörper. Clara erschrickt.)

NATHANAEL: (panisch) Clara? (sie wahrnehmend, erfreut, fast zart) Clara. Du bist es.
NATHANAEL u. CLARA: Warm. Und lebendig.
CLARA: (ebenso) Nathanael.
NATHANAEL: Kein Alptraum. Nein. Ich habe einen schönen Traum gehabt. In dem du dich für mich entschieden hast.
CLARA: Das ist wahr.
CLARA u. NATHANAEL: Das ist die Wirklichkeit.
NATHANAEL: Du verachtest mich nicht. Wendest dich nicht ab? Hast mich nicht verlassen?
CLARA: Ich habe mich für dich entschieden.
NATHANAEL: Was heisst das? Bin ich wach? Bin ich endlich wach?
NATHANAEL u. CLARA: Das ist das Leben.
(Die beiden küssen sich. Ein Moment stimmiger Intimität.)

NATHANAEL: Clara und Nathanael. (nach einer Pause) Du schweigst. Genauso habe ich mir das erträumt. (kurze Pause, verändert) Du solltest dein Haar offen tragen. Die Lippen rot. Ein tailliertes Kleid vielleicht. Und Dekolleté.
CLARA: Träum weiter.
NATHANAEL: Kannst du nicht einfach Ja sagen?

Hotel Capri
Hotel Capri, Zimmer Nummer elf. Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert, obwohl Werner von Späth den Raum seit den 1960er Jahren nicht mehr betreten hat. Das billige Doppelbett, das schon damals veraltete Telefon mit Wählscheibe, der schäbige Wandschrank, alles ist noch da, alles hat überlebt, als hätten die letzten fünfzig Jahre nicht stattgefunden. Aber plötzlich steht eine ohne Punkt und Komma redende Frau vor ihm, die behauptet, Zimmer Nummer elf ebenfalls gebucht zu haben. Und die unter keinen Umstünden bereit ist, den Raum zu verlassen. Egal, was Werner versucht, er wird sie nicht los. Zu seiner eigenen Überraschung bricht er plötzlich in Tränen aus, gesteht der Unbekannten, dass er seit Wochen nicht mehr geschlafen und massive Herzprobleme hat. Doch egal, was die unverhoffte Mitbewohnerin versucht, sie kann nicht in Erinnerung bringen, was dieser distinguierte, stilvolle ältere Herr in einer solchen Absteige zu suchen hat und warum er mit fortschreitender Zeit immer nervöser wird.Und plötzlich fliegen Fussbälle durch das Zimmer, das Radio spielt Musik aus einer längst vergangenen Zeit, und Werner sieht Menschen und Vorgänge, die vielleicht auf Nebenwirkungen seiner Medikamente zurückzuführen, vielleicht aber auch real sind…
STÜCKAUSZUG – HOTEL CAPRI
(…)
CHRISTINE tritt aus dem Badezimmer in den Raum. Sie trägt figurbetonte, auf Primärreize setzende Kleidung und macht einen billigen Eindruck. Trotz der Aufmachung wirkt sie mädchenhaft bzw. unsicher. Als sie WERNER bemerkt, bleibt sie abrupt stehen.CHRISTINE: Was machen Sie in meinem Zimmer?
WERNER: Das gleiche wollte ich Sie gerade fragen. (zu Jessica) Das ist doch Nummer elf.
JESSICA: Woher soll ich das wissen.
CHRISTINE: (verwundert) Vielleicht ist das Schicksal. Könnte doch sein.
WERNER: (gereizt) Das ist mein Zimmer.
CHRISTINE: (ihren Gedanken fortsetzend) Ich kann nämlich nicht gut allein sein. (übergangslos feierlich) Darauf stoßen wir an. Ein Hoch auf die Zweisamkeit. Irgendwo hab ich noch ne Dose Prosecco. Piwarm natürlich. Aber mit zwei, drei Eiswürfeln…
JESSICA: (während Christine die Kühlschranktür öffnet) Der ist im Arsch.
CHRISTINE: (die Augen verdrehend, zu Werner) Die Zimmertür lässt sich nicht abschließen. Der Warmwasserboiler im Badezimmer ist im Eimer und außerdem gibt’s da kein Licht, die Duschkabine hat nur eine Wand und der Duschkopf is verstopft. Und nach dem Händewaschen kann man sich die Hände nicht abtrocknen, weil der Frotteefetzen, der da hängt, nen echt fiesen Geruch ausströmt. Gegen den duften die dreckigen Bezüge auf unserem Bett direkt appetitlich. (zu Jessica) Gibt’s hier überhaupt irgendwas, das funktioniert?
WERNER: Gehen Sie freiwillig? Oder muss ich Sie rausschmeißen?Christine hat nicht zugehört, sondern sich mit dem Radio beschäftigt. Als sie ihm Musik (a la Scooter) entlocken kann, wendet sie sich erfreut an Werner.CHRISTINE: Immerhin. Das muss die Flitterwochen-Suite sein.Werner gibt einen wütenden Laut von sich, setzt sich auf das Bett und vergräbt das Gesicht hinter den Händen. Christine wirkt augenblicklich besorgt.CHRISTINE: Nicht böse sein. Sie denken bestimmt, die ist sympathisch, humorvoll, und so, die hat’s drauf, das ist so eine, mit der man gern das Zimmer teilt. Aber ich verrat Ihnen was: Ich hab auch meine Probleme, ob Sies glauben, oder nicht, zum Bleistift kann ich echt nicht gut allein sein, das hab ich schon gesagt, ich weiß, aber das ist mehr oder weniger mein zentrales Thema. Und da kommen Sie hier rein und plötzlich sind wir zwei. Das ist doch vielleicht ne Möglichkeit. Oder Schicksal. Aber das denk ich nur, das sprech ich nicht aus, das geht doch nicht, dass ich alles immer zweimal sage.
WERNER: (wütend) Stellen Sie gefälligst das Radio aus!
CHRISTINE: Hunde, die bellen, beißen nicht. (erfreut) Eigentlich mögen Sie mich nämlich. Das ist super offensichtlich.Sie stellt das Radio aus. Schweigen. Werner mustert Christine voller Tadel.WERNER: Sie verwechseln Zuneigung mit Höflichkeit.
CHRISTINE: Sie waren doch gar nicht höflich.
WERNER: (schroff) Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Gewöhnen Sie sich daran, allein zu leben. Das ist nämlich die Realität. Vor allem im Alter. Und das sagt Ihnen einer, der was davon versteht.
CHRISTINE: Aber…
WERNER: (ihr ins Wort fallend) Jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen.Erneutes Schweigen. Schließlich geht Christine zum Schrank und öffnet ihn. Er ist leer, bis auf eine bunte Reisetasche. Werner betrachtet Christine.WERNER: Wann sind Sie eingezogen?
CHRISTINE: (sich freudig auf das Angebot stürzend) Vor einer Stunde. Könnte auch vor fünfundvierzig Minuten gewesen sein. Jedenfalls gleich, nachdem ich mich von Hubert getrennt hab. Hubert, mein Freund, beziehungsweise Ex-Freund. (abwinkend) Allerdings hab ich das schon so oft gemacht, nicht mal ich nehm das mehr ernst.
WERNER: (lakonisch) Hat er Sie geschlagen? Oder mit der Nachbarin betrogen?
CHRISTINE: Gemästet. Jeden Tag drei Mahlzeiten. Ich neig so schon zur Fettleibigkeit. Aber noch zwei Monate mit Hubert, und ich wär zum Elefant mutiert.
WERNER: Elefanten sind schöne, sensible Tiere, die – ebenso wie Menschen – über ein Ich-Bewusstsein verfügen. Und wenn sie spüren, dass ihre Zeit gekommen ist, ziehen sie sich von der Herde zurück, um in Einsamkeit zu sterben. Allein. Genau wie Sie und ich. Eines Tages.
JESSICA: Soll das ne Anmache sein?
CHRISTINE: (das Negative ignorierend, heiter) Auf jeden Fall mal was anderes. Beine wie ne Gazelle. Geschmeidig wie ne Katze. Wildfang. Freiwild. Die Art von Schwachsinn hört man sonst. (nachdenklich) Oder Mäuschen. Und wenn das einer sagt, süße Maus, flotter Käfer oder so was Idiotisches in der Art, dann weiß man eh Bescheid worum’s geht, das heißt nämlich, dass ich mich so klein wie möglich machen muss. Mädchenhaft. Ich werde jünger und jünger und immer winziger und winziger, bis er mich endlich total in der Hand hat. Und alles mit mir machen kann: mich bestrafen oder, noch besser, zerquetschen kann. Zack, und platt gemacht. Dünn wie’n Knäckebrot. Aber dann entscheidet er sich meistens mein Retter zu sein und macht aus irgendeinem Grund, der wahrscheinlich super uninteressant ist, keinen Gebrauch von seinem Mordshunger, den er auf mich hat. Zu wissen, dass er mich jederzeit erledigen kann, und es dann gnädiger Weise nicht zu machen: Das nennt ihr Männer Sex. Leidenschaft. Und der Typ geht ab wie Nachbars Lumpi. (Werner plötzlich anfahrend) Wehe, Sie fassen mich an. Elefant. Ich fang gar nicht erst an mir vorzustellen, was für ne fiese, sexuelle Fantasie Sie damit verbinden.
WERNER: Ich will nichts von Ihnen. Ganz im Gegenteil.
CHRISTINE: (erleichtert) Ich heiß Christine. (auf Jessica deutend) Ihre Freundin?
WERNER: (dumm spielend) Die mit der Zellulitis?
JESSICA: (deprimiert) Ihr Name ist Jessica.
WERNER: (zu Christine) Das Zimmermädchen. Angeblich.
CHRISTINE: So was gibt’s hier?
WERNER: (zu Christine, übergangslos) Wollten Sie nicht gehen?
CHRISTINE: (Jessica betrachtend, die in der Zwischenzeit regelrecht eingebrochen ist) Ich hab auch Zimmermädchen gelernt. Nicht hier. Hier würd ich freiwillig keinen Fuß reinsetzen. Unter „Capri“ hab ich mir echt was andres vorgestellt. Dieses Loch kann in puncto Alptraum fast mit der Einliegerwohnung von Huberts Eltern mithalten. (mit Galgenhumor) Alles unverändert: Originaltapeten aus den Siebziger Jahren, die seine Eltern damals hatten, Raffgardinen mit Makramébesatz und diese grauenhafte Schrankwand mit integrierter Hausbar aus irgendeinem Horrorholz.
WERNER: (ausgestellt gelangweilt) Die Wohnung von ihrem Freund.
CHRISTINE: Ex-Freund. (scharf) Können Sie mir mal sagen, was Sie hier machen? Ich hab im „Vier Jahreszeiten“ gearbeitet. Da läuft der Typ Mann rum, zu dem Sie gehören.
WERNER: Was für ein Typ soll das sein?
CHRISTINE: (übergangslos) Sind Sie verheiratet?
WERNER: Das geht Sie nichts an.
CHRISTINE: Ich weiß, ich weiß: Sie leben allein. Aus Prinzip natürlich, ist ja logisch, weil dem Mensch, beziehungsweise dem Mann, nichts anderes übrigbleibt, als super isoliert zu leben, Einzelkämpfer zu sein, unzugehörig bis Ultimo, und so weiter. (scharf) Dabei sind Sie der bedürftige Typ. Und auf den zweiten Blick wahrscheinlich sogar liebenswürdig.
WERNER: Sie haben nicht die geringste Menschenkenntnis.
CHRISTINE: Ich mag Sie.
WERNER: Sie haben bloß Angst vor dem Alleinsein.
CHRISTINE: Da haben wir doch was gemeinsam. (über den perplexen Werner hinweggehend) Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was Sie hier machen. Und weil ich das wissen will, wiederhol ich meine Frage. Auch wenn das nicht geht, dass ich alles zweimal sage.
WERNER: (nach einer Pause) Dieses Hotel hat früher meinem Onkel gehört. „Hotel Karat“. Hier, in diesem Zimmer hab ich oft Hausaufgaben gemacht. Unter anderem. Und als Halbstarker hab ich als Aushilfe ein paar Pfennige dazu verdient.
CHRISTINE: Halbstarker. Pfennig. Würden Sie auch „geil“ sagen? Oder ist Ihnen das Wort zu neu? Könnt ja sein. (als sie merkt, dass Werner ihre Frage nicht aufgreift) Wie heißen Sie? (seine Antwort vorwegnehmend) Ich weiß, das geht mich nichts an. Es wär trotzdem leichter, Sie sagen mir Ihren Namen, sonst frag ich nämlich mindestens zwölf mal nach. Sie denken wahrscheinlich, ich bin eher der zurückhaltende Typ, aber ich warne Sie, im Notfall kann ich megapenetrant und anstrengend sein.
WERNER: (ein Lächeln unterdrückend) Von Späth. Werner von Späth.
CHRISTINE: (scherzhaft) Alter Adel?
WERNER: Alter Apotheker trifft’s eher.
CHRISTINE: (erfreut) Bingo. Da bin ich ja endlich mal an den Richtigen geraten. Darf ich Ihnen ein paar klitzekleine Minifragen stellen? Zum Beispiel: Würden Sie bei Tripper Cefixim empfehlen? Oder Azithromycin? Oder was total anderes? Und bei Feigwarzen? Was raten Sie da? Ist Warticon eher als Creme oder als Lösung zu empfehlen? Wie sehen Sie das? Da hört man nämlich mal dies und mal das. Und was ist mit Aldara? Auf dem Packzettel steht dreimal pro Woche direkt im Genitalbereich auftragen, aber ich hab so ne Ahnung, dass dreimal nicht mal für Zwergwüchsige ausreicht. Und diese super überteuerten Schwangerschaftstests? Ist das nicht alles Tinnef?
WERNER: Ich hatte keine Ahnung, dass diese Fragen für den Alltag eines Zimmermädchens relevant sind.
CHRISTINE: Ich verdiene mein Geld auf der Straße.
WERNER: Ein Freudenmädchen, also.
CHRISTINE: Das haben Sie gesagt.
WERNER: (kühl) Gefällt Ihnen Nutte besser?
CHRISTINE: Müssen Sie alles kaputtmachen? Der Job ist hart genug. (nach einer Pause) Vor allem, wenn man so unbegabt ist, wie ich.
JESSICA: Das Gefühl kenn ich.
WERNER: (plötzlich alarmiert) Wie spät ist es?
CHRISTINE: (scharf) Ich muss gehen. Ich weiß. Sie sagen aber auch alles zwei Mal.Werner springt auf und beginnt in seinem Koffer nach etwas zu suchen, das sich im Verlauf als Armbanduhr herausstellt. Christine betrachtet ihn verärgert, wird dann aber unvermittelt sanft.CHRISTINE: Waren Sie mal in der Südsee? (ohne Werners Reaktion abzuwarten) Ich auch nicht. Aber das wär’s für mich. Ganz instinktiv. So ein kleiner Kiosk aus Bambus, oben drauf mit Strohdach, oder was immer die da haben. Ich könnte mir vorstellen, dass ich ein echtes Verkaufstalent bin, vor allem, wenn’s nicht um meinen Körper geht. Und nicht hier mit diesem fiesen Wetter und den hängenden Mundwinkeln, die alle haben. Aber da drüben, in der Südsee. Im Sonnenschein. Und unter Palmen. Snacks verkaufen, Getränke, Kokosnüsse, und so was. Auf einer dieser vielen Inseln. Das wär was anderes. Darum bin ich auch in der Absteige hier gelandet. Das muss Schicksal sein, hab ich gedacht, als ich den Namen von dem Hotel gelesen hab: Philippinen. Bora Bora. Fidschi. Samoa. Tonga. Jamaica. Und, tatarataa: Capri.
WERNER: (nach einer Pause) Jamaica liegt in der Karibik. Und Capri in Italien.
CHRISTINE: (ebenso) Das Hotel gegenüber heißt „Carmen“. Das hat noch weniger gepasst.In einem kurzen Anfall von Wut tritt sie gegen etwas. Sofort danach schämt sie sich dafür und blickt entschuldigend um sich.CHRISTINE: Südsee. Ist wohl so was wie ne Schnapsidee. Flug. Hütte. Unterkunft. Wareneinkäufe und all das. Dafür braucht man Startkapital. Irgendeine Erbschaft. Aber meine Eltern haben nur Schulden hinterlassen. Und einen echt fiesen Nachgeschmack.
WERNER: Es ist spät. (in die Runde) Ich fordere Sie jetzt zum letzten Mal auf zu gehen. Ich muss mich hinlegen.
JESSICA: (entgeistert) In die versiffte Bettwäsche?
CHRISTINE: (übereifrig) Gute Idee. Sie sehen nämlich irgendwie echt müde aus. Ich schlage vor, Sie hauen sich aufs Ohr und versuchen zu schlafen. Als Kind bin immer richtig gut weggedämmert, wenn meine Mutter mir die Füße massiert hat. Oder soll ich Ihnen was vorlesen? Ich hab zwar kein Buch dabei, aber unten liegt garantiert irgendeine Zeitung. Oder eine von diesen beknackten Illustrierten.
WERNER: (nicht auf sie eingehend, zu Jessica) Und Sie fordere ich zum letzten Mal auf, mein Bett neu zu beziehen.
JESSICA: Ich kann das nicht.
CHRISTINE: (ihren eigenen Gedanken weiterspinnend) Oder heiße Milch mit Honig. Gegenüber bei Starbucks müssten die das doch haben.
WERNER: (zu Jessica) Was.
JESSICA: Zimmermädchen sein.
WERNER: Soll heißen?
JESSICA: Irgendwas. Keine Ahnung.
CHRISTINE: (zu Jessica) Augen auf bei der Berufswahl, kann ich da nur sagen.
JESSICA: (matt aufbegehrend) So was wie Einheitslohn, zum Beispiel. Zweitausend, oder so, pro Monat. Für jeden. Das wär gerechter.
WERNER: Beziehen Sie endlich das Bett.
JESSICA: (nach einer Pause, traurig) Die Minuten haben doch früher nicht so lang gedauert. Die Tage. Die Jahrzehnte. Das war doch früher alles genau festgelegt. Und jetzt haut man sich abends ins Bett, verbringt eine schlaflose Nacht und wenn man aufsteht, ist es grade mal eine Stunde später. Das kann kein Mensch verstehen. Früher sind bestimmt auch die Uhren manchmal stehengeblieben, klar, aber doch nicht die Zeit. Das Leben schleicht. Und der Einzelne schleppt sich an seiner Seite im Schneckentempo weiter.
WERNER: (aufbrausend) Es ist fünf vor halb drei. Und in einer Minute wird es eine Minute später sein. Lassen Sie mich jetzt endlich allein. (als die beiden Frauen ihn verdutzt ansehen) Raus aus meinem Zimmer.
CHRISTINE: Ich wohne hier auch!
WERNER: Raus. Zurück auf die Straße!

Jessica erhebt sich kraftlos, ihr Gesichtsausdruck ist voller Dünkel. Bevor sie den Raum verlässt, dreht sie sich noch einmal um.

JESSICA: Normalerweise ist Trinkgeld üblich.
WERNER: (leise) Raus.
JESSICA: (abgehend) Typisch. (…)

„Kill the Bugger!“
„Ich zweifle nicht, dass wir gewinnen werden, aber der Weg ist lang und rot mit monströsen Martyrien. Allein die Rücknahme des Criminal Law Amendment Act wäre ein Segen“, schreibt Oscar Wilde an Charles Yves, nicht ahnend, dass er kurz darauf auf der Grundlage genau dieses (noch bis 1954 gültigen) Gesetzes wegen Umgangs mit Strichjungen zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt werden sollte. Als die Strafe verkündet wurde, führten Prostituierte in den Straßen Freudentä;nze zur Feier des Triumphes der Heterosexualität auf.
Die Zeitungen waren voller Häme, man pries den Rechtsspruch mit hasserfüllten Schlagzeilen wie „Der Kult des Ästhetischen ist vorüber!“ und legte damit offen, dass man hier nicht nur Wildes geschlechtliche Orientierung, sondern auch einen unangepassten, gnadenlos kritischen Künstler verurteilte, der in kürzester Zeit vom absoluten Publikumsliebling zum Staatsfeind Nr. 1 avanciert war.

Ungeduld des Herzens
Der junge Offizier Anton Hofmiller, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, wird auf ein Fest des Großindustriellen Emil von Kekesfalva eingeladen. Nachdem er ausgelassen mehrere Runden auf dem Parkett gedreht hat, fordert er die Haustochter Edith zum Tanz auf. Erst in diesem Augenblick stellt er fest, dass das blässliche Mädchen an den Rollstuhl gefesselt ist. Beschämt verlässt Hofmiller die Gesellschaft. Doch schon bald sucht er erneut das Gut Kekesfalvas auf, um sich bei Edith für diesen Fauxpas zu entschuldigen. Die Besuche wiederholen sich und Hofmiller wird zum Freund des Hauses und zur großen Hoffnung der Familie. Edith blüht in seiner Gegenwart regelrecht auf, sodass der Vater an eine endgültige Heilung seiner Tochter glaubt. Hofmiller fühlt sich geschmeichelt durch die Bedeutung, die er für die Familie hat. Gerne nimmt er den Auftrag an, Ediths Arzt über ihre gesundheitlichen Fortschritte auszuhorchen. Als er erfährt, dass Edith sich in ihn verliebt hat und Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft macht, wagt er nicht zuzugeben, dass er keine romantischen Gefühle für sie hegt, sondern nur Mitleid. Als man auf Ediths vermeintliche Genesung anstößt, verlobt er sich sogar mit ihr …Der große österreichische Schriftsteller Stefan Zweig seziert in seinem einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten Roman Ungeduld des Herzens jene Form des Mitleids, die versucht, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das eigentlich gar nicht Mitleiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens vor der eigenen Seele.
STÜCKAUSZUG – Ungeduld des Herzens
Stückauszug (Szenen 1-2):I.
Hofmiller, Frau Engelmayer, IlonaHofmiller spricht in Richtung des Publikums. Von ihm unbemerkt tritt Frau Engelmayer auf, richtet ihren Platz am Klavier ein, stimmt es etc.HOFMILLER: Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und aktiver Leutnant. Dass ich jemals sonderliche Passion oder innere Berufung für den Offiziersstand empfunden hätte, kann ich nicht behaupten. Aber wenn in einer österreichischen Beamtenfamilie zwei Mädel und vier hungrige Buben um einen schmalgedeckten Tisch sitzen, fragt man nicht nach ihren Neigungen, sondern schiebt sie frühzeitig ab, damit sie den Hausstand nicht lange belasten. Meinen Bruder steckte man ins Priesterseminar, mich in die Militärschule: von dort aus spult sich das Leben mechanisch fort, der Staat sorgt für alles. In wenigen Jahren fertigt er aus einem blassen Kind einen Fähnrich und liefert ihn gebrauchsfertig an die Armee. Und dort schließlich hangelt er sich mechanisch von Beförderung zu Beförderung, bis hin zu Gicht und Pensionierung.
FRAU ENGELMAYER: Ihren Namen verraten Sie nicht?
HOFMILLER: (sie bemerkend) Hofmiller, Anton Hofmiller. Wer sind Sie? (Ilona wahrnehmend) Und wer ist das?
FRAU ENGELMAYER: (während Ilona abgeht) Das ist die Nichte von Herrn von Kekesfalva.
HOFMILLER: Kekesfalva?
FRAU ENGELMAYER: Der reichste Mann im ganzen Umkreis. Dem gehört praktisch alles. Das Schloss, die große Zuckerfabrik, die er vor fünf Jahren aus dem Boden gestampft hat, das Sägewerk in Bruck, das im April 1921 abbrennt…
HOFMILLER: (sie irritiert unterbrechend) Wir haben 1914.
FRAU ENGELMAYER: Mai 1914. Ich weiß. (den Faden wieder aufnehmend) Schloss, Sägewerk, dazu sechs oder sieben Häuser in Budapest und Wien und natürlich das Gestüt.
HOFMILLER: Man erstickt ja in diesen Provinzgarnisonen. Man kennt vom Sehen schon alle Frauen, das noble und das gewöhnliche Kleid, es bleibt immer dasselbe. Man kennt jeden Namen, jedes Schild, jedes Plakat in jeder Gasse auswendig, alle Gesichter, alle Uniformen, alle Bettler im ganzen Umkreis. (neu ansetzend) Einmal ausbrechen. Raus aus dieser Tretmühle. Das wär was. Dieses Mädchen, dieses Nichte von Herrn Kekesfalva.
FRAU ENGELMAYER: Ilona.
HOFMILLER: Wie gerne würde ich ihre Bekanntschaft machen. Die Bekanntschaft der Familie Kekesfalva. Aber wie soll ich ungeschickter, ärmlicher Mensch mit Herrschaften dieser Art Konversation machen?II.
Hofmiller, Kekesfalva, Edith, Ilona, Dr. Condor, Frau EngelmayerKEKESFALVA: Nein, nein, es ist an mir, mich zu entschuldigen. Ich hätte Sie schon früher einladen sollen, nach all dem Guten, das ich von Oberst Währing über Sie gehört habe. Es ist eine besondere Freundlichkeit von Ihnen, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren. Dass Sie die Zeit gefunden haben. Ich weiß doch genau, was im Dienst so alles dazwischenkommen kann. Wenn ich Ihnen jetzt die Herrschaften vorstellen darf? Zunächst einmal meine Nichte Ilona, mein guter Freund, Dr. Condor, und zu guter Letzt Edith, meine Tochter.
HOFMILLER: Sehr erfreut. Hocherfreut.Steifes Miteinander.KEKESFALVA: Frau Engelmayer. Musik.Sie beginnt zu spielen. Alle geben vor, genussvoll zuzuhören. Schon nach kurzer Zeit unterbricht Frau Engelmayer.FRAU ENGELMAYER: (nach außen) Menuett in F-Dur, Köchelverzeichnis Nr. 5. von Wolfgang Amadeus Mozart. Gestorben am 5. Dezember 1791 in Wien.
KEKESFALVA: (zu Hofmiller) Nicht wahr? Sie sind doch auch der Meinung. Nie haben wir Europäer mehr Grund gehabt, an die Zukunft zu glauben als in dieser Zeit. (bevor Hofmiller antworten kann) Ich jedenfalls bin beseelt von Optimismus und Weltvertrauen. Mehr als vierzig Jahre Frieden haben den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist unserer Generation stolz gemacht. DR. CONDOR: Otto Hahn. Albert Einstein.
KEKESFALVA: Frau Engelmayer.Erneut spielt Frau Engelmayer und bricht nach kurzer Zeit wieder ab.FRAU ENGELMAYER: (nach außen) Annen-Polka, Opus 137 von Johann Strauß Vater, gestorben am 25. September 1849 in Wien.
KEKESFALVA: (zu Hofmiller) Die Städte sind schöner und volkreicher geworden; breiter und prunkvoller die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte. Man spürt es an allen Dingen, wie der Reichtum wächst und sich verbreitet. Aber nicht nur die Städte, auch die Menschen selbst …
EDITH: (ihm ins Wort fallend) … selbst sind schöner und gesünder dank der besseren Ernährung und des Sports, nicht wahr, Papa, das wolltest du doch sagen.
KEKESFALVA: (nach einem betretenen Schweigen) Und wegen der verkürzten Arbeitszeit und veränderten Arbeitsbedingungen – Denken Sie nur an die Automobilherstellung per Fließband.
DR. CONDOR: Henry Ford.
KEKESFALVA: Eine Innovation, die den Menschen zukünftig von körperlicher Schwerstarbeit befreit. (neu ansetzend) Frau Engelmayer.Sie beginnt, etwas sehr melodisches zu spielen. Trotzdem halten sich instinktiv alle verschreckt bis empört die Ohren zu. Frau Engelmayer spielt extra länger als zuvor.FRAU ENGELMAYER: Waldesnacht, Opus 62 von Arnold Schönberg. Geboren am 13. September 1874 in Wien. Emigriert 1933 in die Vereinigten Staaten. Stirbt am 13. Juli 1951 in Los Angeles.
KEKESFALVA: Niemand klagt noch um die sogenannte gute, alte Zeit. Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft. Überall sind neue Bibliotheken, Museen, Theater und Konzertsäle entstanden, die Menschen…
EDITH: (wie oben) …die Menschen singen und tanzen, nicht wahr, Papa, es ist ein anderer Rhythmus in der Welt.
FRAU ENGELMAYER: (in die betretene Stille hinein, konspirativ nach außen) Was jetzt geschieht, ist furchtbar. Der Oberkörper der Haustochter fährt mit einem Ruck zurück, als wollte er einem Schlage ausweichen. Und plötzlich bricht es heraus: ein Schluchzen, wild, wie ein erstickter Schrei. (sich selbst korrigierend) Nein. Noch nicht. Jetzt noch nicht.

Frau Engelmayer beginnt, einen Walzer zu spielen.

ILONA: (die Musik dankbar aufgreifend, zu Hofmiller) Kennen Sie das? Ich war im Februar auf der Premiere im Theater an der Wien.
EDITH: (erfreut) „Endlich allein“. Operette in drei Akten von Franz Lehár.
ILONA: (singend) Ich bin verliebt, bin so verliebt / Bin verliebt, bin so verliebt / maßlos verliebt / bin so wie ein kleines Mädel / Nie hätt‘ ich gedacht / dass uns die Liebe selig macht.

Ilona bittet Hofmiller zum Tanz. Erst, als er sieht, dass niemand etwas dagegen einzuwenden hat, nimmt er die Aufforderung an. Edith singt fröhlich mit.

EDITH: Ich möcht‘ lachen und jubeln und tanzen / durch die singende, klingende Welt / Ich bin so verliebt / so verliebt, so verliebt.

Alle applaudieren dem Tanz. Hofmiller wird Edith gewahr.

HOFMILLER: Welche Flegelei, welcher Affront. Da tanze ich und habe noch nicht einmal die Haustochter aufgefordert. Das muss sofort repariert werden. (zu Edith) Darf ich bitten, gnädiges Fräulein?
FRAU ENGELMAYER: (nach außen) Jetzt!

Edith reagiert auf die Aufforderung mit eruptivem Schluchzen und Schreien. Ihr gesamter Körper verkrampft sich. Sie schlägt auf Hofmiller ein, bis Kekesfalva sie packt und ihr den Mund zuhält. Die gut gelaunte Frau Engelmayer spielt dazu den Walzer, bis Ilona bzw. Dr. Condor ihr den Klavierdeckel zuschlagen. Irgendwann erschlafft Edith. Kekesfalva zieht sich zurück.
Schweigen.

STÜCKAUSZUG – Es begab sich zu der Zeit

14.Die Ärztin spricht mit dem Mann. Von ihrer Seite verlegene Intimität. Anfänglich kann sie ihm kaum in die Augen sehen.ÄRZTIN: Sie haben geschrien im Schlaf. Um sich getreten. Hat die Nachtschwester gesagt. (nach einer Pause) Sagen Sie etwas. Irgendwas. (vorsichtig einen Scherz versuchend) Ich breche auch nicht wieder in Tränen aus. Das verspreche ich. (neu ansetzend) Sagen Sie etwas. Um Ihnen ein positives Gutachten zu erstellen, muss ich Ihre Beweggründe verstehen. Warum Sie das gemacht haben. Dass Sie keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. (nach einer Pause, sich wütend nach außen wendend) Schon wieder dieser Satz. Seit Tagen hatte er sich in meinem Kopf festgesetzt; er breitete sich von da aus als bösartiges Geschwür, als Tumor in mir aus. (anzitierend) Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Bzw. Übel, je nach Übersetzung. Das Böse. Das Übel. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger wusste ich, was damit gemeint sein soll. Die schlechte, bösartige Tat, also etwas aktives, oder die negativen Gedanken von Hass, Neid, Missgunst, Eifersucht, Brutalität bis hin zu Mordplänen und Vernichtungsfantasien und was einem sonst noch an Negativem einfällt? Oder ist das Übel ein negativer Zustand wie Schlaflosigkeit, Krankheit, Behinderung und so weiter? Oder – noch schlimmer – ist das Böse, das Übel etwas Grundloses, etwas latent Vorhandenes, das kausal überhaupt nicht ableitbar ist. Egal, wie viele Freunde oder Beziehungen, wie liebevoll die Familie: Die Einsamkeit bleibt. Egal, wieviel Erfolg: Das Gefühl, ein Versager zu sein, den Ansprüchen nicht zu genügen, bleibt. Egal, wie gut es objektiv für einen läuft: Das schleichende Gefühl, das Eigentliche zu verpassen, bleibt. Oder noch einfacher: Egal, wie viele Pillen der Mensch schluckt, egal, welche Medizin ich ihm verschreibe: Die Krankheit bleibt. Das Leiden. Die Trauer. Die Erschöpfung. Die Müdigkeit. Die Gefühle von Vergeblichkeit, Hoffnungslosigkeit, Verlorenheit. Die Lähmung. Die Depression. Die Panikattacke. All das sind feste Bestandteile des Lebens. Das ist das Leben. Aber jetzt mal ehrlich, wer bitte denkt sich so was aus: Schlaflosigkeit? Oder Eifersucht? Aggression? Scheidung? Wer braucht Überstunden? Oder Fehlgeburten? Welchen Sinn machen Hunger, Gedächtnisverlust oder Arbeitslosigkeit? Dafür entscheidet sich niemand freiwillig. Und wenn doch, ist der sogenannte Freie Wille etwas Perverses, eine verkappte Form von Masochismus. Oder selbstgewählter Unfreiheit. (zusammenfassend) Die ewig alte, abgegriffene Standardfrage nach dem Sinn des Lebens. Keine Angst: Die erspare ich Ihnen. (mit dem Weinen kämpfend) Der Mythos sagt, dass Jesus zu den Menschen gekommen ist, um uns von unserem Leid zu erlösen. Wozu das alles? Wenn wir ehrlich sind, hat die Aktion – Kreuzigung, Wiederauferstehung und so weiter – in der Realität nichts gebracht. Null Komma gar nichts. Damals. (sich wieder an den Mann wendend) Jetzt sagen Sie doch endlich was. Irgendetwas: Welche Diagnose ich in das Gutachten eintragen soll. Welchen Namen. Welchen Zivilstand. Welche Nationalität. Geburtsdatum. Geburtsort. Irgendetwas.
MANN: (konspirativ, verschmitzt) Bethlehem. Beziehungsweise Nazareth.Schweigen. Die Ärztin sieht den Mann zunächst verständnislos an, dann wird sie ängstlich. Plötzlich geht sie zu ihm und ohrfeigt ihn mit aller Kraft. Der Mann begehrt nicht auf. Die Ärztin fängt übergangslos an, seine Zwangsjacke zu öffnen und komplett auszuziehen.ÄRZTIN: (währenddessen) Sie sind verrückt. Sie müssen verrückt sein.15.DER PASSANT wendet sich mitteilsam bzw. dozierend nach außen. Die Narren mischen sich von Zeit zu Zeit ein.PASSANT: Der heutige Mensch ist das Resultat eines langen und beharrlichen Kampfes ums Dasein. Und im Verlauf dieses Kampfes ums Dasein gelingt es einigen, sich zu ernähren bzw. zu überleben – und anderen eben nicht. Diejenigen, die es geschafft haben, also die Gewinner, Stichwort:Er sieht die Narren auffordernd an. Diese sind überrascht, angesprochen zu werden.PASSANT: Stichwort?
DER EINE NARR: Äh, naja… (zum anderen Narren) Sag du.
DER ANDERE NARR: Genaugenommen…
PASSANT: (das Unwissen der Narren demonstrativ kommentierend) Stichwort: Survival of the Fitterst. Kurzum: Die Gewinner geben also ihr Genmaterial an kommende Generationen weiter. Das Genmaterial der Verlierer… (mit auffordernd-fragendem Blick zu den verschreckten Narren)… Das Genmaterial der Verlierer stirbt aus. Punkt. Nächster Gedanke: Egoistische Menschen, also Menschen, für die das eigene Interesse nicht nur im Vordergrund steht, sondern die sich auch so verhalten, dass ihre Interessen Berücksichtigung finden, diese egoistischen Menschen haben viel größere Aussicht auf Erfolg als sogenannte Altruisten, die ihr eigenes Leben in den Dienst anderer stellen. Stichwort: …Er wendet sich wieder an die Narren. Diese versuchen, sich zu disziplinieren bzw. klug zu wirken.

PASSANT: Nächstenliebe.
DER ANDERE NARR: (bestätigend) Nächstenliebe. (bevor der Passant weitersprechen kann) Ja.
DER EINE NARR: Das ist schwer.
DER ANDERE NARR: Wieso? Was?
DER EINE NARR: Mit der Nächstenliebe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Also ich kann mich nicht ausstehen.
DER ANDERE NARR: Ich dich auch nicht.
DER EINE NARR: Genau das meine ich. Wie soll das denn gehen? Nächstenliebe.
DER ANDERE NARR: (ihn auf den Kopf schlagend) Idiot. (den Passanten anbiedernd ansehend) Ich hab damit kein Problem.
PASSANT: Ich wiederhole: Egoistische Menschen, also Menschen, für die das eigene Interesse nicht nur im Vordergrund steht, sondern die sich auch so verhalten, dass ihre Interessen Berücksichtigung finden, diese egoistischen Menschen haben viel größere Aussicht auf Erfolg als sogenannte Altruisten, die ihr eigenes Leben in den Dienst anderer stellen (ganz schnell, damit sich die Narren nicht zu Wort melden) – Stichwort: Nächstenliebe – , statt ihre eigenen Gewinnchancen in Angriff zu nehmen bzw. zu maximieren. Und weil Egoismus zu einem nicht unbeträchtlichen Teil genetisch festgelegt ist – also Teil unseres genetischen Codes ist – wird somit die Zahl der Egoisten anwachsen und die der Altruisten kleiner werden. Mit der Evolution gesprochen heißt das, dass es irgendwann in der Zukunft gar keine sogenannten Altruisten mehr geben wird.
DER EINE NARR: Das ist aber schade.
DER ANDERE NARR: Du weißt doch gar nicht, was Altruismus heißt. Was das Wort bedeutet.
DER EINE NARR: Trotzdem.
PASSANT: Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass es so etwas wie reinen Altruismus überhaupt nicht gibt. Letztlich handelt jeder – mehr oder weniger verdeckt – aus egoistischen Motiven.
DER EINE NARR: Aber…
PASSANT: (ihm herablassend ins Wort fallend…) Was ist mit den sogenannten guten Menschen?
DER EINE NARR: Genau!
DER ANDERE NARR: Mutter Teresa, zum Beispiel. Oder Karlheinz Böhm. Das haben wir doch gehört. Das hat doch vorhin jemand erzählt, was für gute Beiträge die geleistet haben.
PASSANT: (gelangweilt) Und Mahatma Gandhi. Der Dalai Lama. Martin Luther King…
DER EINE NARR: (parallel zum anderen Narr) Nie gehört. Du?
PASSANT: (wie oben)… Anne Frank. Nelson Mandela. Und so weiter, und so weiter. (neu ansetzend) Jede Tat hat egoistische Motive: Mutter Teresa ist Christin. Und wenn man – wie sie – daran glaubt, für gute Taten im Jenseits belohnt zu werden, dann fällt es einem wahrscheinlich nicht besonders schwer, sich ein Leben lang für Kranke und Sterbende auf den Straßen Kalkuttas aufzuopfern. Eine Art notwendige Dienstleistung mit Blick auf die Ewigkeit. Oder anders gesagt: Kein Opfer zu groß in Hinblick auf die eigene Heiligsprechung. Und Karlheinz Böhm. Der hat eben als Schauspieler keinen Erfolg mehr gehabt. Da sucht man sich natürlich ein neues Umfeld, um im Rampenlicht bzw. im Blitzlichtgewitter zu stehen. Und wer kann sagen, ob die Spendengelder wirklich alle da angekommen sind, wo sie hinsollten? Außerdem hatte der gute Mann wahrscheinlich irgendein Faible für schwarze Frauen. Irgend so ein Fetisch. Natürlich geht man da nach Afrika. Muss das Paradies für ihn gewesen sein.
DER ANDERE NARR: Aber…
PASSANT: (im Gehen) Ach was! Wir sind Affen! Wir Menschen sind Affen. Wir haben 98,6 Prozent mit den Schimpansen gemeinsam. Wir stehen dem Schimpansen genetisch näher als dieser dem Orang-Utan!

Er geht entnervt ab. Die Narren sehen sich fragend bzw. überfordert an.

DER ANDERE NARR: Und Affen sind egoistisch?
DER EINE NARR: Wahrscheinlich.

16.

Der Mann spricht gut gelaunt bzw. mit Schalk nach außen, während der Arzt damit beschäftigt ist, in seinen Unterlagen zu lesen o.ä.

MANN: Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Und es war ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel, während die Hunde dabei waren, an seinen Geschwüren zu lecken. Es begab sich aber, dass der arme Lazarus starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als der Reiche nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief: Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet und du wirst gepeinigt. Da sprach der Reiche: So bitte ich dich, Abraham, dass du Lazarus sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen. Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; auf die sollen sie hören. Der Reiche aber sprach: Nein, Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Abraham aber sprach zu ihm: Wenn sie nicht auf Mose und die Propheten hören, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten aufersteht.
ARZT: (zerstreut) Was?

Keine Reaktion.

17.

Die Narren packen ihre Bibeln wieder ein.

DER EINE NARR: Stimmt das eigentlich?
DER ANDERE NARR: Was?
DER EINE NARR: Dass Gott tot ist. (als der andere Narr wenig engagiert mit den Schultern zuckt, interessiert) Und wer ist der Nachfolger?

Phaedra
PHAEDRA: Dieses verdammte Theater. Dieses ewig andauernd immer wieder nicht totzukriegende Theater. Diese anachronistische Affektanordnung und Selbstdarstellungsinstallation. Diese sich um Kopf und Kragen mäandernde Maschine, diese Demonstration von Kostüm Perücke Make-Up falschen Wimpern und exemplarisch ausformulierten Gefühlen und anachronistischen Spielregeln. Diese Mischung aus Schleichen Schmieren Schreiten in Richtung Bühnenmitte. An die Rampe. In die Totale. Die Routine. Das Ritual. Und dann dieses Wissen, dass es – einmal angefangen – keinen Rückweg mehr gibt in Richtung Satzabbruch Wortlosigkeit Verweigerung Schweigen.
Ist mir bekannt. Weiß ich alles. Logischerweise weiß ich das alles. Ich habe das Verlorensein in der Sichtbarkeit von Geburt an in mich runtertrainiert. Runtertrainieren lassen. Die Barbarei des Scheinwerferlichts. Die gnadenlose Gedankenlosigkeit des Apparates, den ich bediene. Den Ekel vor Sprache. Vor Wörtern Sätzen Versen Fragezeichen, der ganze oberflächliche Dreck, der nicht mal ansatzweise dem gerecht wird, was in meinem Körper ungehört wuchert und Epochen übergreifend metastasiert. Ich versuche zu grinsen. Zu lachen. Angewidert auszuspucken. Mir selbst zu applaudieren. Und endlich zu gehen. Stattdessen lese ich die Regieanweisung: Ihre Kräfte schwinden. Ihre Knie zittern. Sie bricht verzweifelt zusammen. Spricht unter Tränen weiter. Das steht da. Hat immer da gestanden. Wird immer wieder – auf besonderen Wunsch des Publikums – da stehen. Komplett überflüssig die Regieanweisung zu lesen, um nicht schon seit Jahrhunderten gewusst zu haben, was ich auswendig vorwärts und rückwärts bleich blass verheult verzweifelt aufsage. Bühnenwirksam ist nämlich nur das Leid. Der Schmerz. Die Qual. Die drohende Vernichtung der Protagonistin, deren Sprache ihre einzige Möglichkeit in einer Welt darstellt, der nichts an ihrem Überleben liegt. Und die deshalb naturgemäß ohne Pause Punkt oder Komma redet redet redet redet. Und weil das so ist, ist das hier ein Monolog. Mein Monolog. Der Eröffnungsmonolog der ersten Szene des ersten Aktes eines Dramas, das meinen Namen trägt.

Der Vorhang öffnet sich; was da so machbar ist.

OENONE: Phaedra.

PHAEDRA: Gehen wir nicht weiter, Oenone! Ich halte mich nicht mehr, die Kräfte schwinden, mich schmerzt des Tages ungewohnter Glanz, und meine Knie zittern unter mir. Ach!

OENONE: Große Götter, schaut auf unsre Tränen!

PHAEDRA: Wie diese schweren Hüllen auf mir lasten, der eitle Prunk! Welch ungebetne Hand hat diese Zöpfe künstlich mir geflochten, mit undankbarer Mühe mir das Haar um meine Stirn geordnet? Muss sich alles verschwören, mich zu kränken, mich zu quälen?

OENONE: So ist sie ewig mit sich selbst im Streit!
– Du selbst, o Königin, besinn’ dich doch, dein trauriges Beginnen widerrufend, hast unsern Fleiß ermuntert, dich zu schmücken. Du fühltest dir noch Kräfte, dich hervor zu wagen und der Sonne Licht zu sehn. Du siehst es jetzt und hassest seinen Strahl!

PHAEDRA: Glanzvoller Stifter meines traurigen Geschlechts! Du, dessen Enkeltochter ich mich rühme! Der über meine schmähliche Verwirrung vielleicht errötet – hoher Sonnengott! Zum letzten Male seh’ ich deine Strahlen.

OENONE: Weh mir, noch immer nährst du, Königin, den traur’gen Vorsatz und entsagst dem Leben?

PHAEDRA: O säß’ ich draußen in der Wälder Grün! –
Wann wird mein Aug’ auf der bestäubten Bahn des raschen Wagens flücht’gen Lauf verfolgen?

OENONE: Wie, Königin? Was ist das?

Monolog II

PHAEDRA: Ach, ich bin von Sinnen – ich bin schwachsinnig. Was rede ich da? Was soll das verdammte Theater? Warum schon wieder diese dramatische Schräglage beziehungsweise Absturzgefahr, einzementiert im Niemandsland zwischen Hochkultur und kalkulierter Unterhaltung? Wer hat mir diese tonangebende Tenorstimme – oder ist das ein hoher Bariton – zugewiesen, der sich derart gut in mir auskennt, dass ich zwischen ihm und mir nicht unterscheiden kann? Das Panzerglasoberflächenmaterial meines Ichs suggeriert Sopran. Diva. Vulva. Vagina. Phaedra. Aber schon einen Millimeter unter dem Äußeren sucht man so was wie Weiblichkeit vergeblich, das ist da nämlich gar nicht vorgesehen. Kopfschere Zensurbehörde Ausgangssperre abgeschlossene Gesellschaft: Ich stehe vor abgeriegelten Türen, existiere nicht in mir, der Gedanke an mich ist fiktiv fingiert konstruiert. Beabsichtigt für Schönheit Wehleidigkeit Schmiegsamkeit Opportunismus und dekoratives Aufbegehren – gerne unter Tränen. Bitte sehr: Beachten Sie, wie ich meine Depressionen in Versen festspraye und sie damit zum Aphrodisiakum mache. Wie ich mich in das Erscheinungsbild von Rehaugen und widerlich kitschigen Kindertränen hinein romantisiere und die Tatsachen meines Lebens zu drittklassig nichtssagenden Metaphern verdrehe. Mir ist übel, richtig übel, ich kotze und kotze, mein Denken Fühlen Wollen ist zu hundert Prozent Galle, und trotzdem klingt alles, was ich sage exakt nach dem, was von mir erwartet wird. Was – verdammt nochmal – mach ich hier? Kann mir das mal jemand sagen? Was hab ich hier verloren? Auf dieser Drehbühne, die sich autistisch unermüdlich selbstgerecht und radebrechend um ihre eigene Achse bewegt. In diesem Land. In dieser Stadt. In diesem Theater. Dieser Kostümierung. Eine dramatische Degradierung, raus aus der Hauptdarstellerin rein in die Statistin und lebenslängliche Fehlbesetzung. Und wie lautet das Geheimnis meines Abstiegs? Es ist der Ring an meinem Finger. Der verdammte Ring an meinem Finger. Er macht mich zur Exotin. Zur Fremden. Zur Ausländerin. Zur Komödiantin wider Willen. Zur bösen Stiefmutter. Zur bärtigen Frau. Zum Zirkuspferd. Und Tanzbär. Abgerichtet. Mittellos. Hirnlappentot. Nichts.

Und weiter.