HAMLET
Interview mit Thomas Jonigk und Christof Loy


Das Libretto zu einem neuen Hamlet für das Shakespeare-Jahr 2016 zu schreiben, ist vermutlich eine große Herausforderung. Wie war Ihre Herangehensweise und wie haben Sie sich gegenüber Shakespeares Text verhalten?

Thomas Jonigk:
Zunächst habe ich versucht, Shakespeare in den Hintergrund zu stellen; es sollte ja um den Stoff, den Mythos Hamlet gehen. Da das Shakespeare-Stück quasi ein Monolith ist, habe ich mich erstmal mit älteren Bearbeitungen des Stoffes beschäftigt. Das hat zu einer geistigen Befreiung geführt. Ich habe mit Hilfe der Quellen – der Gesta Danorum von Saxo Grammaticus und den Histoires tragiques von François de Belleforest -etwas ganz Eigenes gestaltet und mich dann erst im Rückgriff wieder mit Shakespeare beschäftigt, um abzugleichen, was meine Fantasie vielleicht mit seiner Kreation zu tun hat. Insgesamt wollte ich aus den vorliegenden Quellen eine möglichst subjektive Deutung vorlegen, die für die heutige Zeit lesbar ist, ohne dass mein Hamlet eine auf flache Weise aktualisierte Figur wird.

Es ist eine Uraufführung. Geht man als Regisseur in einem solchen Fall anders mit dem Stück um als mit einem bereits bekannten Stück?

Christof Loy:
Einerseits gibt es eine Verantwortung in der Form, dass man eine Uraufführung so inszenieren sollte, dass dieses neue Stück möglichst auch nachgespielt wird. Aber andererseits gibt es gegenüber großen Repertoire-Stücken eine angenehme Freiheit, weil man die Figuren mit entwickeln und prägen kann, ohne Rollenvorbilder im Kopf zu haben. Obwohl die Figuren so bekannt sind, hat im Ensemble im Moment keiner das Gefühl, wir reproduzierten eine Version von Hamlet, sondern wir erfinden gerade zusammen ein neues Stück. Ich bin jemand, der gerne die Hörerfahrung mit der Musik zur Vorbereitung hat, der sich auch über Aufführungstradition ganz gut definieren kann, das fällt bei einer Uraufführung natürlich alles weg. Ich muss daher eine besondere Wachheit an den Tag legen, wenn ich bei den Proben die Musik tatsächlich das erste Mal höre. Wo muss ich mich gegen etwas verhalten, was sowieso schon als Klang emotional transportiert wird? Wo Facetten raushören, die nicht das sind, was man sowieso als Hörerlebnis bei der Aufführung mitbekommt? Merkwürdig ist auch, dass schon im Vorfeld Entscheidungen über Bühnenbild und Kostüme getroffen werden müssen, obwohl man noch keinen Ton der Musik hören konnte. Deshalb habe ich sehr früh den Kontakt mit Anno Schreier gesucht und ihn gebeten, dass er mir mit Worten beschreibt, wie die Musik klingen wird. So hatte ich wenigstens eine vage Vorstellung von dem Stück, als ich mich mit Johannes Leiacker daran machte, die Bühne zu erfinden. Da spielt man mit einigen Unbekannten. Andererseits war die Besetzung der Uraufführung sehr früh klar.

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HAMLET
Interview mit Thomas Jonigk und Christof Loy

Das Libretto zu einem neuen Hamlet für das Shakespeare-Jahr 2016 zu schreiben, ist vermutlich eine große Herausforderung. Wie war Ihre Herangehensweise und wie haben Sie sich gegenüber Shakespeares Text verhalten?

Thomas Jonigk:
Zunächst habe ich versucht, Shakespeare in den Hintergrund zu stellen; es sollte ja um den Stoff, den Mythos Hamlet gehen. Da das Shakespeare-Stück quasi ein Monolith ist, habe ich mich erstmal mit älteren Bearbeitungen des Stoffes beschäftigt. Das hat zu einer geistigen Befreiung geführt. Ich habe mit Hilfe der Quellen – der Gesta Danorum von Saxo Grammaticus und den Histoires tragiques von François de Belleforest -etwas ganz Eigenes gestaltet und mich dann erst im Rückgriff wieder mit Shakespeare beschäftigt, um abzugleichen, was meine Fantasie vielleicht mit seiner Kreation zu tun hat. Insgesamt wollte ich aus den vorliegenden Quellen eine möglichst subjektive Deutung vorlegen, die für die heutige Zeit lesbar ist, ohne dass mein Hamlet eine auf flache Weise aktualisierte Figur wird.

Es ist eine Uraufführung. Geht man als Regisseur in einem solchen Fall anders mit dem Stück um als mit einem bereits bekannten Stück?

Christof Loy:
Einerseits gibt es eine Verantwortung in der Form, dass man eine Uraufführung so inszenieren sollte, dass dieses neue Stück möglichst auch nachgespielt wird. Aber andererseits gibt es gegenüber großen Repertoire-Stücken eine angenehme Freiheit, weil man die Figuren mit entwickeln und prägen kann, ohne Rollenvorbilder im Kopf zu haben. Obwohl die Figuren so bekannt sind, hat im Ensemble im Moment keiner das Gefühl, wir reproduzierten eine Version von Hamlet, sondern wir erfinden gerade zusammen ein neues Stück. Ich bin jemand, der gerne die Hörerfahrung mit der Musik zur Vorbereitung hat, der sich auch über Aufführungstradition ganz gut definieren kann, das fällt bei einer Uraufführung natürlich alles weg. Ich muss daher eine besondere Wachheit an den Tag legen, wenn ich bei den Proben die Musik tatsächlich das erste Mal höre. Wo muss ich mich gegen etwas verhalten, was sowieso schon als Klang emotional transportiert wird? Wo Facetten raushören, die nicht das sind, was man sowieso als Hörerlebnis bei der Aufführung mitbekommt? Merkwürdig ist auch, dass schon im Vorfeld Entscheidungen über Bühnenbild und Kostüme getroffen werden müssen, obwohl man noch keinen Ton der Musik hören konnte. Deshalb habe ich sehr früh den Kontakt mit Anno Schreier gesucht und ihn gebeten, dass er mir mit Worten beschreibt, wie die Musik klingen wird. So hatte ich wenigstens eine vage Vorstellung von dem Stück, als ich mich mit Johannes Leiacker daran machte, die Bühne zu erfinden. Da spielt man mit einigen Unbekannten. Andererseits war die Besetzung der Uraufführung sehr früh klar.

Thomas Jonigk:
Die Stimmfächer waren schon bevor ich zu schreiben anfing klar: Gertrud, zum Beispiel, sollte ein hoher Sopran sein, Ophelia ein Mezzosopran. Das macht für mich beim Schreiben schon einen Unterschied. Ursprünglich gab es mal die Idee, dass der tote Vater ein Tenor sein sollte, aber ich habe schnell gemerkt, dass funktioniert für mich nicht, obwohl es sogar mein Vorschlag war. Meine Fantasie veränderte sich über das Schreiben in Richtung einer Sprechrolle. Und die ist es ja dann auch geworden.

Christof Loy:
Zu dem Zeitpunkt, als Anno anfing zu schreiben, stand die Besetzung fest. Das hat erstens ihm natürlich geholfen, aber auch für mich als Regisseur war das gut, weil es ja eben noch kein Material gab. Es sind viele Sänger, mit denen ich schon vorher gearbeitet habe. Es gibt viele Unbekannte bei einer Uraufführung, aber für mich gibt es hier auch Bekannte.


Sie haben sich für ein sehr viel kleineren Personenkreis als Shakespeare entschieden, es gibt keinen Polonius, keinen Fortinbras, keine Schauspieler, keine Totengräber, keine Rosenkranz & Güldenstern, warum?

Thomas Jonigk:
Für mich ist während der Beschäftigung mit dem Stoff immer klarer geworden, dass mich der Mikrokosmos im Makrokosmos interessiert. Es gibt den Staat Dänemark, und es gibt innerhalb dieses Staates die Königsfamilie, die das Kleine im Großen darstellt. Und ich habe dieses Kleine, die Familie, ins Zentrum gestellt. Aufgrund dieser dysfunktionalen Familie kann plausibel gezeigt werden, weshalb Hamlet eine problematische, schwer lesbare und sich im Leben schwer positionierende Figur ist. Er ist das Resultat einer bereits verkommenen Elterngeneration, die ihre Glaubwürdigkeit und ihr Verantwortungsgefühl eingebüßt haben. In diesem Kosmos muss sich Hamlet positionieren und ist damit zum Scheitern verurteilt. Bei Shakespeare waren Ehrgefühl, Moral, Gerechtigkeitssinn, Schuld- und Unschuldsbewusstsein zum Teil noch in den Figuren verankert; bei mir sind sie in Richtung des Chores ausgelagert worden, der wie eine mahnende Institution oder wie aus ein griechischer Chor auftritt. Das war für mich der Schlüssel zum Stoff, die Brücke in die Gegenwart: Die einzelnen Personen sind vulgär und verlogen geworden, sie haben ihre Würde eingebüßt – und regieren und bestimmen dennoch. „Irrsinniges Treiben darf bei Mächtigen nicht unbewacht bleiben“, singt der Chor und thematisiert damit unseren Wunsch nach Gerechtigkeit. Doch der muss Illusion bleiben.


Sie verwenden einen Sprachstil, der sich von den Chorpassagen, wofür Sie originale Shakespeare-Zitate verwendet haben, sehr unterscheidet. Was wollen Sie mit diesem Kontrast erreichen?

Thomas Jonigk:
Ja, die Familie spricht Jonigk und der Chor Shakespeare. Das hat für mich damit zu tun, dass diese Shakespeare-Sprache eine unglaubliche Höhe hat und aufgefüllt ist mit emotionaler Tiefe, die diese Familie nicht mehr hat. Ich konnte sie mit Shakespeare-Sprache nicht in Verbindung bringen.

Christof Loy:
Die Sprache des Chores gemahnt an Ansprüche, die wir zumindest immer noch aus einem bildungsbürgerlichen Kanon kennen, aber die Realität von heutiger Gesellschaft ist mental und sprachlich auf dem Boden angekommen, wo sich diese Familie befindet. Durch diesen Kunstgriff natürlich wird die Diskrepanz zwischen moralischem Wunschdenken und der Realität noch größer.

Thomas Jonigk:
Die Familie, angeführt durch Claudius und Gertrud, ist eine ganz pragmatische, ähnlich heutigen Politikern oder Wirtschaftsvertretern: Niemandem kann geglaubt oder getraut werden. Shakespeare formuliert zwar, dass Mächtige immer Kontrolle brauchen, aber selbst diese Kontrolle ist heutzutage korrumpiert. Figuren wie Claudius oder Gertrud können willkürlich, egoistisch und selbstbestimmt handeln. Damit werden sie nicht glücklich, aber sie bleiben mächtig. Und der Chor lässt, wie ich hoffe, eine Art Sehnsucht nach emotionaler Verbindlichkeit, nach Glaubwürdigkeit, Tiefe und emotionaler Stabilität aufkommen.


Was hat der Chor für Funktionen?

Christof Loy:
Grundsätzlich empfinde ich den Chor als Beobachter. Er wird nur wirklich aktiv in dem Moment, wenn er die Worte des toten Vaters spricht. Innerhalb unseres Stückes findet das als ein Alptraum von Hamlet statt. Er entwickelt dadurch zum ersten Mal den Gedanken, dass sein Vater von Claudius ermordet worden ist. Aber abgesehen von dieser einen konkreten Szene ist der Chor immer außen vor. Im Laufe des Abends kann man immer weniger unterscheiden zwischen der beobachtenden Funktion und den Momenten, in denen Gedanken der Protagonisten, aber auch Gedanken der Zuschauer im Text des Chores zusammenfließen. Dazu muss man noch erwähnen, dass der Chor zu Anfang in Kostümen aus der Shakespeare-Zeit auftritt. Die Idee war, dass das, was aktuell stattfindet, sich in einem Raum ereignet, in den dieser Chor wie durch einen Timetunnel in die Gegenwart versetzt wird und mit Schrecken beobachtet, was aus dem Staat Dänemark geworden ist.


Sind die Verhältnisse denn schlimmer geworden oder ist es noch genauso grässlich wie damals, zur Shakespeare-Zeit?

Christof Loy:
Ein Abgleiten in die Vulgarität und die Degeneration hat sich bei Shakespeares Königsfamilie schon angekündigt und ist nun als das Resultat der Jahrhunderte zum Grotesken und auch Lächerlichen vergrößert. Das Lächerliche und das Groteske ist daher ein wesentlicher Bestandteil des Librettos geworden.

Thomas Jonigk:
Es ist auf eine andere Weise schlimm als es früher war. Ich würde sagen, die Gesellschaft hat sich immer mehr verkleinert ins Private und ins Persönliche, es gibt überhaupt keine Anbindung an das Gemeinwohl oder den Gemeinsinn und daraus resultiert ein Metaphysikverlust. Der Chor gemahnt an Begriffe, die uns verloren gegangen sind, aber er gemahnt auch an eine bestimmte Größe der Sprache, an eine bestimmte pathetische, „große“ Form von Theater, und deswegen finde ich es auch stimmig, dass der Chor auf einmal „Sein oder Nichtsein“ sprechen kann, das ist wie etwas Entwichenes, was wir heute gar nicht mehr zur Verfügung haben. Deswegen war der tote Vater für mich auch unmöglich als ein seriöser Geist denkbar, weil das auf eine Form von Jenseits verwiesen hätte, die für diese Figuren gar nicht mehr zugänglich ist. Jemand, dem heute dieser tote Vater erscheint, käme sofort in die Psychiatrie. Für mich ist der tote Vater genauso vulgär und pragmatisch, besitzergreifend, ehrversessen und machtbesessen wie alle anderen. Er soll ein bisschen an Nietzsches Wiederkehr des Immergleichen erinnern. „Es gibt keinen Ausweg“ – dieser Satz wird an diesem Abend sehr oft gesprochen. Das Leben ist so, wie es ist, in seinen Zwängen und Begrenzungen und daraus gibt es kein Entkommen, weder für Hamlet, der es versucht, noch für jemanden, der gestorben oder umgebracht worden ist. Das ist natürlich eine frustrierende Bestandsaufnahme, die aber auch erklärt, warum diese Figuren so hoffnungslos, so illusionslos sind und auch so starr sind.

Christof Loy:
Ich empfinde es als besonders zynisch in diesem Libretto, dass die Person, die tot ist, der tote Vater, noch nicht mal den Tod als Grenze empfindet – Ophelia und Hamlet tun dies, sie begreifen den Tod als einen entscheidenden Schritt, der gegangen werden muss. Der Vater ist so korrupiert, so emotionsfrei, dass ihm selbst das Totsein nichts mehr ausmacht.

Thomas Jonigk:
Das sagt er ja auch: Zu Lebzeiten sollte man schon möglichst tot sein. Das führt zu Erstarrung, es gibt kein sensibles Erleben mehr, so scheint mir diese Familie, und das ist etwas, was ich als Gesellschaftsbeschreibung für heute tauglich finde, ohne dass sowohl in dem Text als auch in der Inszenierung konkret das 21. Jahrhundert aufscheinen muss.


Ich finde, man sieht es auch gut an Gertrud, sie empfindet zuweilen noch, aber am Schluss ist sie genauso tot. Jede Regung, die nicht in Claudius Konzept passt, wird unterdrückt. Sonst fliegt sie aus ihrer Position, die sie aber um jeden Preis halten will.

Christof Loy:
Ja, diese Momente sind sehr wichtig, denn es wäre natürlich nicht interessant, wenn man nur eindimensionale Typen hätte, zum Beispiel wenn Gertrud nur ein Männer-manipulierendes Monster wäre. Es muss immer wieder diese Momente geben, in denen die Figuren auch kippen könnten, dadurch haben sie trotz ihrer Lächerlichkeit immer wieder das Zeug zur Tragik. Das ist das Interessante. Hamlet empfinde ich über die Proben hinweg immer weniger als schwache Figur, sondern als jemanden, der durchaus sehen kann, was um ihn herum passiert. Sein ständiges „Da muss ein Ausweg sein“ – „Es gibt einen Ausweg“, seine Suche danach finde ich innerhalb von der Welt, in der er lebt, schon eine unglaublich lobenswerte Anstrengung. Natürlich hat er kaum eine Chance, aber es ist wichtig, die Figur als jemand zu begreifen, der in sich eine Sprengkraft trägt.

Thomas Jonigk:
Was wäre, wenn er und Ophelia kämen tatsächlich zusammenkämen? Ob sie nicht, wie Gertrud sagt, an ihrem Glück ersticken würden? Irgendwie hat man das Gefühl, dass hier niemand über das Private so richtig hinaus kommt.

Christof Loy:
Ophelia ist hier ja hier eine von Gertrud engagierte Prostituierte, die Hamlet ablenken soll, damit er nicht weiter darüber grübelt, auf welche Weise sein Vater tatsächlich umgekommen ist. Damit ist sie allerdings die einzige Figur, die von außen kommt und wird gefährlich durch das, was sie in Hamlet auslöst. Und deswegen soll sie auch schnell wieder eliminiert werden.

Thomas Jonigk:
Shakespeare ist ja der erste, der Ophelia so verklärt, ihr Verhältnis zu Hamlet romantisiert hat und sie im Wahnsinn enden lässt, einem Wahnsinn, der psychologisch nicht plausibel ist und eher dem gängigen Publikumsgeschmack verpflichtet ist, der Frauenopfer verlangte, als der Logik. In den frühen Quellen kommt Ophelia als Namenlose von außerhalb des Hofes, sie wird angeheuert für Sexualität wie eine Prostituierte, auch wenn sie für ihre Zwangsdienste nicht bezahlt wird.


Und warum ist der tote Vater eine Sprechrolle geworden?

Thomas Jonigk:
Weil ich ihn so profan wie möglich haben wollte, tatsächlich als Komiker. Ich glaube, gewisse Texte kann man nicht komponieren, sie würden total an Witz einbüßen. So wie ich jetzt den Eindruck habe, ist dieser tote Vater wirklich eine komische Figur geworden. Über das Sprechen wirkt er treffender und holt die Leute im Publikum viel direkter ab. Er ist so viel verführerischer, so dass die Leute sich instinktiv auf seine Seite stellen, was eigentlich fatal ist. Er übernimmt die Funktion des Narren, wie wir ihn von Shakespeare kennen. Bei „Hamlet“ wären das die Totengräber gewesen, bei mir ist es der tote Vater: Vertreter eines ganz gemeinen, brutalen und ordinären Humors, der immer dann eingesetzt wird, wenn die Zustände so verstrickt sind, dass sie nicht mehr gelöst oder erklärt werden können.

Christof Loy:
In seiner Art, die Dinge lapidar zu kommentieren, ist er ein Antipode zum Chor. Eigentlich gibt es drei Ebenen im Libretto und dadurch in der Inszenierung: Die Familie, den von außen kommenden Chor und den toten Vater. Er ist jemand, der in der Familie gelebt und sich davon absentiert hat. Mit Hilfe dieser beiden Beobachtermedien ist es möglich, dass wir als Zuschauer die Ereignisse wie durch ein Prisma sehen können: Je nachdem, wer gerade kommentiert, sind wir hin- und hergerissen, wonach wir uns richten sollen: Nach den großen ethischen Begriffen oder vielleicht doch nach den Einsichten dieses fatalistischen Zynikers?


Sie haben den Fokus sehr geschärft auf das Vater-Sohn-Verhältnis. Es wird Hamlet immer gesagt „Du bist der nächste König.“ Das ist wie eine Drohung. Es gibt zwei Vorbilder, den Vater und den Onkel, aber die gefallen Hamlet beide nicht.

Thomas Jonigk:
Mich hat daran vor allem das Hamlets Selbstbild interessiert, denn indem er seinen Vater ablehnt, lehnt er ja auch sich selber ab. Wenn er seinen Vater als farblos bezeichnet, ist das auch immer eine Selbstbeschreibung aus Selbsthass heraus.

Christof Loy:
Diese tote Vaterfigur hat ja auch was Paradoxes. Dieser Geist bezeichnet sich selbst als jemanden mit Führungskompetenz, aber man sieht eigentlich nur einen Spießer, der gerne im Wohnzimmer sitzt. Gleichzeitig ist er ein Albtraum von Vater, wenn man sich vorstellt, dass so das Resultat eines Lebens ohne Selbstzweifel aussieht. Ähnlich unausgeglichen ist Hamlet: Er schwankt zwischen extremen Selbstzweifeln und Momenten, in denen er glaubt, ihm gehöre die Welt. Er kann sich sowohl wiederfinden in diesem spießigen toten Vater als auch im Machtmenschen Claudius. Und das ist, glaube ich, sein Dilemma. Und dann findet sich in dem Libretto sehr stark ausgeprägt das Verhältnis Hamlets zu seiner Mutter, es gibt viel mehr Szenen zwischen Hamlet und seiner Mutter als bei Shakespeare oder den anderen Hamlet-Vertonungen, die es gibt.

Thomas Jonigk:
Wir sind heute durch die Psychoanalyse ja vollkommen verbildet und wissen, dass durch das Verhältnis mit der Mutter auch die Selbständigkeit oder Unselbständigkeit eines Menschen beschrieben werden kann, und jemand, der sich von seiner Mutter so abhängig macht wie dieser Hamlet, ist auch immer ein unselbständiger Mensch. Das ist nicht jemand, der aufsteht und für seine Rechte kämpft, sondern jemand, der in totaler emotionaler Abhängigkeit verbleibt und extrem manipulierbar ist.

Christof Loy:
Trotzdem wird in diesem Stück auch eine große Liebesgeschichte zwischen Mutter und Sohn erzählt. Durch meine Auseinandersetzung mit den Donizetti-Königinnen fällt mir auf, dass Gertrud Ähnlichkeiten aufweist mit Elisabeth in Roberto Devereux, die eine Liebesgeschichte nicht wirklich ausleben kann, oder auch Lucretia Borgia, die ja auch in ihren Sohn verliebt ist. Anno Schreier hat auch – eventuell unbewusst – die Klage der Gertrud wie eine Paraphrase auf eine Belcanto Arie geschrieben, die mich total an die unerfüllte Liebe der tragischen Heldinnen dieser Epoche erinnert.

Thomas Jonigk:
Diese Frauen sind auch ein sehr gutes Medium, um die Hilflosigkeit, Machtlosigkeit, Geworfenheit von Menschen überhaupt darzustellen. Gertrud ist eine Frau, die in einer Machtposition ist und trotzdem bleibt sie unterlegen und abhängig. In ihrer großen Passage beschreibt sie glasklar, dass sie gar nicht so ist, wie sie sich präsentiert. Aber sie muss sich so zeigen, weil sie sonst nicht da wäre, wo sie ist. Um Macht und Einfluss zu behalten, muss sie eine bestimmte Rolle erfüllen, ob sie darunter leidet oder nicht.


Sie haben das auch sehr schön zugespitzt, nach dieser monologischen Stelle von Gertrud gibt es gleich einen anderen kleinen Monolog von Ophelia, wo sie sich fragt, ob Liebe für sie als Frau in ihrer Situation überhaupt möglich ist. Wir sehen zwei typische Frauenschicksale in einer von Männern beherrschten Welt. Beider Probleme sind ähnlich, sie müssen die Rollen erfüllen, die Männer von ihnen erwarten. Nur befindet sich Gertrud am oberen Ende der sozialen Skala, Ophelia am unteren. Unterdrückt und ausgebeutet sind beide. In solchen Dilemmata befanden sich Frauen zu Shakespeares Zeiten und befinden sich viele Frauen trotz der erweiterten Möglichkeiten immer noch.

Christof Loy:
Mir fällt auch auf, dass eigentlich alle Figuren Hamlet als unschuldiges Liebesobjekt sehen und sich auf ihn stürzen. In ihn wird unheimlich viel reinprojiziert, selbst von Claudius bevor er Hamlet umbringt. Hamlet ist selbst so lebensunerfahren und kommt damit überhaupt nicht zurecht. Da ist es für ihn noch am einfachsten, Liebe unhinterfragt zu erwidern. Dadurch wird aber ein kranker, physicher Mechanismus freigesetzt, der einen unruhig macht. Man denkt: „Bitte brich aus! Das wäre schon ein wesentlicher Schritt Richtung des Ausweg, den du suchst.“


Es gibt die Möglichkeit von Liebe zwischen Ophelia und Hamlet. Die beiden wünschen in diesem Moment frei zu sein von allen Rollenvorbildern und Erwartungen der Welt an sie und sagen: „Kein Vater. Keine Mutter. Kein Mann. Keine Frau. Kein Mensch.“ Nur in dieser völligen Freiheit scheint ihnen ein Zusammensein möglich. Anno Schreier hat an dieser Stelle ein scheinbar schönes Zwischenspiel komponiert. Gibt es einen Moment von Liebe, von Ihnen gedacht, von Ihnen inszeniert?

Thomas Jonigk:
Ich habe mir beim Schreiben immer vorgestellt, die beiden müssen einander erkennen als zwei eigenartige Wesen, die über ihre Eigenartigkeit zusammenpassen und darüber auch eine Utopie entwickeln, eine Liebe empfinden. Die Realität ist hart umgegangen mit diesen beiden Figuren: Ophelia hat kein Selbstwertgefühl mehr und kann sich deswegen nicht für liebenswert halten. Sie muss daher sofort alles wieder kaputt machen. Hamlet hingegen hat vielleicht zu wenig Realitätssinn und gerät sofort ins Schwärmen. Er begreift nicht, in was für einer fragilen Situation sie sich befinden. Aber der Versuch von Liebe ist da. Insofern finde ich es wichtig, ihn auf der Bühne begreifbar zu machen.

Christof Loy:
Ich bin da sehr vorsichtig. Wenn Liebe nicht hinterfragt wird von denen, die aufeinander zugehen, stellt sich für mich sofort sowas wie Kitsch her. Von daher habe ich diese Liebesszene so inszeniert, dass sehr schnell spürbar wird, dass das Glücksgefühl zwischen den beiden bereits am bröckeln ist.

Thomas Jonigk:
Man spürt insgesamt eine starke Sehnsucht nach Liebe und Verstandenwerden bei allen Figuren, selbst der Pastor hat in seiner Servilität eigentlich das Ziel, Anerkennung zu ernten und der tote Vater möchte Sympathie vom Publikum bekommen. Keine der Figuren ist gepanzert. Das ist auch etwas, worüber ich sehr viel mit Anno Schreier gesprochen habe, man darf in den einzelnen Szenen nicht zeigen, dass die Figuren Heuchler oder Lügner sind, sie müssen immer meinen, was sie sagen. Zum Beispiel sagt Gertrud in einer Szene zu ihrem Sohn, ok, du hast Recht, geh zu Ophelia, und man glaubt es ihr, weil sie es in diesem Moment auch so meint, und eine Szene später hört man, dass sie Claudius auffordert, Ophelia umzubringen, und das meint sie auch. Das steht für sie gar nicht im Widerspruch und wir waren uns sehr schnell einig, dass man diese Ehrlichkeit der Figuren immer wieder genauso darstellen muss, was für Anno als Komponist ja die noch viel größere Aufgabe war. Es ist perfide, wie man den Figuren immer wieder erliegt, wenn sie emotional ehrlich sind in dem, was sie zu verhandeln haben – und dann erweisen sie sich trotzdem als so grausam.

Christof Loy:
Als Regisseur fühle ich mich immer in alle Figuren ein: Ich vertrete sie. Daraus ergibt sich ein oft widersprüchliches, komplexes oder gar paradoxes Portrait und schließlich, wenn man die Figuren alle zusammen betrachtet, kommt ein Gefüge dabei heraus, das sich mit bürgerlich moralischen Maßstäben nicht erfassen und klassifizieren lässt. In der Komposition von Anno Schreier scheint sich denn auch der Chor, der am Anfang in den Haltungen sehr gefestigt scheint, durch das, was er da miterlebt, immer mehr aufzulösen. Wenn der Chor nämlich „Sein oder Nicht Sein“ singt, ist es wie silbenhaftes Nicht-mehr-richtig-Kombinieren-Können des Shakespeare-Texts. Also auch mit dem Chor passiert etwas, während er die einzelnen Stationen beobachtet: Er findet sich auch nicht mehr zurecht in der Welt.

Thomas Jonigk:
Ebenso wie Hamlet selbst. Warum auch immer er nicht handelt, warum er zögert, wir werden es nicht sagen können, aber diese Figur eignet sich hervorragend als ein Stellvertreter für unsere momentane Situation, in der kaum noch jemand weiß, wie er sich zu bestimmten Situationen in der Gesellschaft verhalten soll. Es fällt schwer, überhaupt noch eine Meinung zu etwas zu haben, es fällt schwer, etwas zu glauben, es fällt schwer, nichts zu glauben, man wird passiv, man wird depressiv, zynisch – und es gibt einfach keine andere Figur, die so geeignet ist, diesen Zustand zu verdeutlichen. Hamlet zeichnet sich durch eine bestimmte Form von Passivität, von Überforderung und Beschwerde aus, man weiß nicht genau, warum, aber man versteht es, man ist sofort emphatisch damit. Das ist ein Phänomen, das sich problemlos in die Gegenwart ziehen lässt.

Christof Loy:
Man kann bei dieser Familie das Fehlen von Metaphysik feststellen. Selbst der Pastor sagt zu Hamlet, „Sehen Sie, das Jenseits schweigt“, auch er hat den Glauben verloren. Interessanterweise ist aber der Teil nach der Pause, in dem es um den Tod von Ophelia und Hamlet geht, komponiert wie ein großes szenisches Requiem, die Chorbilder rahmen das Ganze ein, es wirkt wie ein Begräbnisgesang. Ein interessanter Vorgang: Was ist Thema des Textes, und was macht die Musik dann mit dem Text.


Der Pastor ist eine sonderbare Gestalt, ohne Vorbild in den Quellen oder bei Shakespeare, was Schreier ihm für Musik komponiert hat, ist auch sehr speziell.

Thomas Jonigk:
Der offizielle Vertreter des Jenseits ist am metaphysikfreiesten von allen. Er ist ein Beamter, ein Heuchler. Aber er ist auch eine komische Figur. Ausgerechnet er, dieser flache Charakter, hat „Sein oder Nichtsein“ geschrieben und führt damit alle Kategorien von dem, was man sich heute als ideale Künstlerpersönlichkeit so vorstellt, ad absurdum.

Christof Loy:
Und wiedermal schließt sich eine Tür für Hamlet: Die Kunst ist auch kein Ausweg.


Die letzte Szene ähnelt sehr der ersten, es scheint eine Spirale zu sein, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Thomas Jonigk:
Ja, denn man sieht dann die lebenden Toten, so hatte ich das beim Schreiben immer im Kopf. Der tote Vater steht im Bild, die Lebenden und die Toten sind unterschiedslos, es ist eine in sich selbst erstarrte Gesellschaft, auch wenn die Musik vielleicht noch eine andere Form von Bewegung reinbringt. Auf diesen Kreislauf bin ich übrigens über Shakespeare gekommen, weil Shakespeare der erste war, der den toten Vater – der in seinen Quellen Horwendil hieß – auch Hamlet genannt hat. Shakespeare selbst hat also diese unentrinnbare Kette, dass Vater und Sohn das Gleiche sind, etabliert.

Christof Loy:
Auch Anno Schreier schließt in den letzten Takten musikalisch an den Beginn an und bekräftigt damit diese schreckliche Spirale. Ich steige auch ein mit einem Bild, das ich am Schluss wieder aufgreife. Meine Idee war, dass wir das Museum besuchen, in dem wir die Familie Hamlet beobachten können und müssen uns damit auseinandersetzen, dass sie ein Eigenleben führt und sich sehr von dem entfernt hat, wofür wir sie gehalten haben. Und am Ende verlassen wir dann dieses seltsame Geisterhaus, in dem seit Jahrhunderten Unwesen getrieben wird.


Das Gespräch führte Karin Bohnert.
Erstabdruck in: Programmheft HAMLET, Theater an der Wien 09/2016