„Die Familie, jede Familie zeichnet sich natürlich durch die Eigenschaft aus eine Konzentration von Isolation zu sein.“ (Gertrude Stein)

Die Gitterstäbe sind aus Holz. Sie umrahmen das Kinderbett, in dem ich liege, und erschweren die Sicht auf den dahinter liegenden Raum: Schräge Wände (offenbar ein Dachzimmer) sind mit verblichenen Tapetenbahnen tapeziert: Vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren waren darauf einmal gutmütige Bärenkindergesichter hinter enormen Honigtöpfen zu sehen. Und freundliche Elterntiere, die ihnen zurufen, ruhig tüchtig zuzugreifen, es sei genug Honig da, immer habe ich mir vorgestellt, dass sie das rufen müssten, die Bärenmutter und der Bärenvater, der das Jüngste in seinen pelzigen Armen hält, das er am Ende des lustigen Tages auf weichen Tatzen nach Hause trägt.

Heute sind auf der Tapete nur wiederkehrende, sinnlos gewordene Formen unterschiedlicher Grösse auszumachen (in farblichen Abstufungen von beige bis braun). Vor meiner Geburt war dies das Arbeitszimmer meines Vaters.

Meine Beine liegen auf dem rückwärtigen Gitter des Bettes, die Füsse hängen aufgerichtet in der Luft und weisen in Richtung der Zimmerecke, die mit ausrangierten Gegenständen (Gartengeräten, Plastikplanen, Dachpappe, Farbeimer) vollgestellt ist. Wenn ich den Kopf nach rechts verdrehe, sehe ich …

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IM KINDERZIMMER (IMMER NOCH)

VON THOMAS JONIGK

„Die Familie, jede Familie zeichnet sich natürlich durch die Eigenschaft aus eine Konzentration von Isolation zu sein.“ (Gertrude Stein)

Die Gitterstäbe sind aus Holz. Sie umrahmen das Kinderbett, in dem ich liege, und erschweren die Sicht auf den dahinter liegenden Raum: Schräge Wände (offenbar ein Dachzimmer) sind mit verblichenen Tapetenbahnen tapeziert: Vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren waren darauf einmal gutmütige Bärenkindergesichter hinter enormen Honigtöpfen zu sehen. Und freundliche Elterntiere, die ihnen zurufen, ruhig tüchtig zuzugreifen, es sei genug Honig da, immer habe ich mir vorgestellt, dass sie das rufen müssten, die Bärenmutter und der Bärenvater, der das Jüngste in seinen pelzigen Armen hält, das er am Ende des lustigen Tages auf weichen Tatzen nach Hause trägt.

Heute sind auf der Tapete nur wiederkehrende, sinnlos gewordene Formen unterschiedlicher Grösse auszumachen (in farblichen Abstufungen von beige bis braun). Vor meiner Geburt war dies das Arbeitszimmer meines Vaters.

Meine Beine liegen auf dem rückwärtigen Gitter des Bettes, die Füsse hängen aufgerichtet in der Luft und weisen in Richtung der Zimmerecke, die mit ausrangierten Gegenständen (Gartengeräten, Plastikplanen, Dachpappe, Farbeimer) vollgestellt ist. Wenn ich den Kopf nach rechts verdrehe, sehe ich den alten Kleiderschrank, auf dem mein Vater (er ist seit mindestens zwanzig Jahren tot, zumindest glaube ich das) seinen Werkzeugkasten, abgewetzte Reisekoffer sowie Stapel von alten Wochenzeitschriften gelagert hat.
Ebenso einen Globus, auf dessen Halterung sich Spinnweben festgesetzt haben, Länder, Kontinente und Weltmeere, sämtlich unbereist, nie erkundet, auch die Koffer sind nie über Deutschland und wenige Nachbarländer (Dänemark, Niederlande) hinausgekommen. Ihre Aufbewahrung ist entweder der Tatsache geschuldet, dass sie vergessen wurden. Oder, dass es irgendwo im genetischen Labyrinth meiner Eltern so etwas wie Sehnsucht gab: Lust, Neugierde, wenn nicht sogar Mut (die Bereitschaft zum Unerwarteten, Unwägbaren).

Mein Vater ist tot.

Mein Mutter vermutlich auch.

Ich bin das Kind.

Dies ist ein Kinderzimmer, mein Kinderzimmer, das ich seit einigen Jahrzehnten nicht mehr betreten habe. Ich bin ihm entwachsen, weder passe ich in die Grenzen meines Gitterbetts noch an den von meinem Vater gebauten Tisch aus Kiefernholz. Ich stehe als Goliath in den Überresten einer Zeit, für die ich zu groß geworden bin: Ich stoße an, remple, renne gegen Wände und beanspruche einen unmöglichen Radius. Ich blicke auf meine in Materie erstarrte Vergangenheit herab, eine abgeschlossene Zeit, die Wörter wie „Kleinfamilie“, „Vater“, „Sohnemann“ oder „Kinderkrankheit“ evoziert und vorbei ist. Ich befinde mich in der Gegenwart meines Lebens, längst müsste ich selbst Vater und meine Kinder junge Erwachsene sein und so weiter, und so weiter.

Michel Foucault beschreibt Räume, die auf spezielle Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren. Diese bezeichnet er als Heterotopien, die existierende Normen nur teilweise oder nicht vollständig umgesetzt haben oder nach eigenen Regeln funktionieren (zum Beispiel der Dachboden, das Kinderzimmer, das elterliche Ehebett, die Bibliothek). Nach Foucault sind sie „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte.“

Das Kinderzimmer als realisierte bzw. lokalisierte Utopie. Für mich lösen der Aufenthalt darin und die Erinnerung an diese Zeit ohne greifbare Zukunft Gefühle aus, die ich mit Beklemmung und Einengung bezeichne. Mit Sprachlosigkeit. Unsagbarkeit. Und Zwang. Mit der Präsenz von etwas, das sich der Präsenz versagt. Mein Kinderzimmer im Arbeitszimmer meines Vaters: eine Krypta (laut Jaques Derrida präsentiert eine Krypta sich nicht. Oder anders gesagt: Die Krypta bewahrt einen unauffindbaren Ort als Grund. Und zwar mit gutem Grund). Ich bin in diesem Zimmer, und das Zimmer in mir, der eine bewahrt das andere (und umgekehrt). Keine Trennung, keine Abnabelung, nichts in Sicht, was Aussen- oder Aufsicht gleichkäme.

Gefangen im Raum meines Vaters.

Noch einmal zurück zum Anfang. Ich liege in meinem Kinderzimmer, in mir isoliert, auf engstem Raum mit denen, die meine Familie bilden, die ich bis zu meiner Volljährigkeit circa 6500 Tage vermisst, gehasst, verachtet und umworben habe. Dabei hat dieses Zimmer nie existiert, es ist ein Produkt meiner (dichterischen) Fantasie. Gitterbett, Bärentapete, der vom Vater gebaute Tisch aus Kiefernholz – alles erdacht. Und doch deckt sich das Erfundene auf fatale Weise mit (auto-)biografischem Material. Fakten verschwimmen mit Fiktion, Personen und Zeiträume werden (je nach Grad der Verwundung) dämonisiert, verdrängt oder überbewertet: Mein Gedächtnis hält keiner kalendarischen und familiengeschichtlichen Überprüfung stand, es ist emotional: versehrt, wütend, fassungslos. Und (vor allem) nachtragend. Es ist das des Kindes, das ich noch immer bin.

„Jedes Leben das man betrachtet kommt einem unglücklich vor aber jedes gelebte Leben ist ziemlich vergnügt und was immer geschieht es wird auch weiterhin so sein.“ (Gertrude Stein)

Meine Kindheit war schrecklich. Meine Kindheit war glücklich. Beide Aussagen sind wahr, je nachdem, welche Fotografien ich hervorhole und betrachte. Ich erinnere mich an mich: beim Auspacken der Geburtstagsgeschenke, beim Spielen mit Nachbarskindern und beim Ausflug zum Tierpark Hagenbeck: Vervielfältigte Nachweise einer (momentweise) glücklichen Kindheit. Dennoch war mein Bedürfnis, nicht mehr Kind zu sein. Oder wie Oliver Twist rechtzeitig erfahren zu dürfen, dass irgendwo auf der Welt (Adoptiv-)Eltern bereitstehen, die sich als besser, weniger gewalttätig und meiner insgesamt angemessener erweisen würden. Kein Kuckucksei mehr sein zu müssen. Den eigenen Eltern nicht mehr fremd.

Dabei ist die Ähnlichkeit zwischen mir und meinen Eltern (die im jungen Alter schön waren), nicht zu übersehen. Das Foto meines Vaters als junger Matrose (mit nacktem Oberkörper einen Schiffsbug reinigend) scheint mich darzustellen. Von meiner Mutter habe ich Stirnfalte, Haarfarbe, vor allem aber Suchtneigung und dramatische Begabung geerbt. Ich wurde an ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag, dem fünften (oder sechsten Hochzeitstag meiner Eltern), geboren, seitdem ist alles unheilvoll miteinander verwoben: Teile ihrer Körper und ihres Charakters wurden meine, Erfahrungen, Defizite oder Ängste meiner Eltern waren plötzlich etwas, das mich ausmachte. Wörter wie „Muttermal“, „Tochterzelle“ oder „Vaterland“ lassen keinen Zweifel daran: Es gibt kein Entkommen, weder auf der genetischen, anatomischen noch gesellschaftlichen Ebene. Das Prinzip Vater und Mutter, das ich bekämpfe, ist in mir begründet und wuchert als Krebsgeschwür oder zerstörerischer Embryo, der nicht abgetrieben werden kann.

Wie will ich leben? Wer bin ich? Und wie lautet die Alternative zum Sein als universeller, biologistischer, hyperfamilialer Eklektizismus? Zum Auffanglager für Erbgut und genetische Begrenzung?

Schon als Kind habe ich Männer abgelehnt. Väter als dumpfe, unsensible, gesprächsunfähige Wesen betrachtet und verachtet. Oder anders gesagt: Es kann nicht darum gehen, Kind gewesen zu sein, um ein Mann zu werden, dessen einzige Berufung es ist, Vater zu sein, Führungspositionen in den Bereichen Familie, Kirche, Politik (und so weiter) einzunehmen und Nachwuchs zu zeugen, d.h. Menschen nach dem eigenen Bild zu schaffen. „Die Vaterschaft kann, wenn schon nicht besiegt, so doch zumindest entschieden abgelehnt werden“ schreibt Donald Bartholme, aber wie geht das? Schwul zu sein und keine Kinder in die Welt zu setzen, kann unmöglich ausreichend sein. Sich auf die weibliche Seite schlagen, der bessere Feminist sein und sich verleugnen? Nein.

Niemand kann ein Leben lang in seinem Kinderzimmer bleiben.

Im Arbeitsraum seines Vaters.

Vielleicht ist Kindsein eine Möglichkeit: wild sein, verspielt sein, unberechenbar, anstrengend und unökonomisch, Umwege machend, die nach Baudrillard die einzige Möglichkeit sind, nicht erfasst zu werden und Widerstand zu leisten. Diese Aussicht könnte mich überzeugen, Vaterschaft zu meinem Thema zu machen und eigene Quälgeister wie Plagen in die Welt zu setzen. Wer weiß: Vielleicht liegen in meinem Gitterbett eines Tages doch Kinder, die ich über Selbstbefruchtung (wie Bandwurm oder Tellerschnecke) gezeugt haben werde. Dann aber mindestens neunzehn. Von denen zwölf Mädchen (neun unfruchtbar und drei lesbisch) und sieben Jungs (vier schwul und drei zeugungsunfähig) sein werden.

Ich freue mich jetzt schon auf die Zeit, die wir gemeinsam in meinem Kinderzimmer verbringen werden. Wir werden Familie spielen und uns dann entschließen, gemeinsam auszusterben.

Mal sehen, wie’s dann weiter geht.

abgedruckt in:
MAX JOSEPH. Das Magazin der Bayerischen Staatsoper.
Heft 3 (2012-2013)