Zunächst einmal zwei Zitate. Erstens (S. 69): „Lese an The Wolf-Man grows older weiter. (Da gibt´s auch eine Olga, die aber nicht so widerlich ist wie die Olga in Cechovs Drei Schwestern – die Realität ist doch manchmal besser…)“. Und des Weiteren zweitens (S. 162): „Da gibt´s sogar eine Bar Olga, die ist ganz muffig, und wenn man ins Klo will, darf man ja nicht betrunken sein, denn die Stufen zum Klo sind so steil, daß man wohl besser ein Seil zum Abseilen in die Kellerschlucht nimmt.“

Drei Olgas in Olga oder eine Olga-Odyssee durch das Meer oder weniger eines venezianischen Arbeitsjournals. So oder anders lautet der Aufsatz-Ansatz (dabei ist dies weder Aufsatz noch Ansatz). Vorsatz des Verfassers: Sich abseilen, …

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IN OLGA VON THOMAS JONIGK

Zunächst einmal zwei Zitate. Erstens (S. 69): „Lese an The Wolf-Man grows older weiter. (Da gibt´s auch eine Olga, die aber nicht so widerlich ist wie die Olga in Cechovs Drei Schwestern – die Realität ist doch manchmal besser…)“. Und des Weiteren zweitens (S. 162): „Da gibt´s sogar eine Bar Olga, die ist ganz muffig, und wenn man ins Klo will, darf man ja nicht betrunken sein, denn die Stufen zum Klo sind so steil, daß man wohl besser ein Seil zum Abseilen in die Kellerschlucht nimmt.“

Drei Olgas in Olga oder eine Olga-Odyssee durch das Meer oder weniger eines venezianischen Arbeitsjournals. So oder anders lautet der Aufsatz-Ansatz (dabei ist dies weder Aufsatz noch Ansatz). Vorsatz des Verfassers: Sich abseilen, hinab in den Bauch der Komponistin, hinein in das Papier der Biographie, hinunter in Olga, einen vorgeblich-vergeblich dargelegten Lebenslauf hinauf und über den Abgrund zeitgenössischer Musik hinweg. über die Gräber der großen Toten (Purcell, Händel, Mozart, Schönberg, Nono) in aufrechter Haltung auf die großen lebenden Untoten zu, die –von unzähligen Großzahlen totgeschwiegen, totgesagt und totumarmt – des Lebens, das ihnen nicht zur Verfügung steht, nicht froh werden: Allein einsam, in sich außer sich und Außenseiter in Begleitung. Weiter! Die Tür zu Olga steht offen. Hoffentlich sind wir nicht die einzigen, die eintreten in diesen ungebetenen Gast. Hinein in einen Raum der Nicht-Zugehörigkeit, einen Raum des Unerhörten, des Zuhörens, in dem sich nichts gehört, was sich gehört. Dies ist ein Raum von eins, zwei, drei Olgas in Olga. Sie stehen knöcheltief naß in Fruchtwasser, in dem sie sich aufhalten, weil es nur einen, vielleicht unbequemen Weg hinaus gibt. Wir bleiben stehen und überlegen und wählen den Geburtskanal. Der Empfang ist schlecht, das Bild verzerrt gestört. Darüber wird mehr Privates erkennbar, als öffentlich-rechtlich gesellschaftsfähig ist.

Eins – OLGA N(euwirth), geboren am 4.8.68 in Graz (Löwe!). Ab dem siebten Lebensjahr Trompetenunterricht, von 1987-1993 Kompositionsstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Wien. Komposition bei Erich Urbanner. Außerdem Studium am Elektroakustischen Institut. 1985-1986 Studium am Conservatory of Music, San Francisco, sowie am Art College, San Francisco. 1993-1994 Studium bei Tristan Murail in Paris. 1998 wurde Olga N im Rahmen der Reihe „Next Generation“ in zwei Portraitkonzerten bei den Salzburger Festspielen vorgestellt. 1999-2000 UA des Musiktheaters „Bählamms Fest“ bei den Wiener Festwochen. Olga N erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. 1999 den Förderpreis der Ernst von Siemens-Stiftung sowie den Hindemith-Preis des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals.

Zwei – OLGA S(ergejewna) ist eine von drei Schwestern in Anton Cechovs gleichnamigen Stück. Zunächst Lehrerin an einem Mädchengymnasium wird sie schließlich – ohne daß dies ihrem wirklichen Wunsch entspräche – zur Leiterin desselben. Sie ist achtundzwanzig Jahre alt und leidet unter beständigen Kopfschmerzen sowie unter der Unmöglichkeit, ihrem alltäglichen Leben in Richtung Moskau zu entkommen. Olga S vertritt die Position, man heirate nicht aus Liebe, sondern um seine Pflicht zu erfüllen. Sie ist unverheiratet und gewohnt, um sieben Uhr aufzustehen. Der Tod ihres Vater liegt ein Jahr zurück, beschäftigt sie aber noch sehr. Olga N findet Olga S widerlich.

Drei – OLGA D(rei) verfügt über keine rekonstruierbare Biographie. Sie ist ein älteres Fräulein deutscher Abstammung, Gesellschafterin von Anna, der Schwester des sogenannten Wolfsmannes, Freuds berühmtem Fall, dargestellt in „Die Geschichte einer infantilen Neurose“ (hierzu Olga N (S. 60): „Der erste Traum des Wolfmannes interessiert mich wegen Bählamm. Weiße Wölfe in den Bäumen, absolute Stille, bevor sie durchs Fenster springen: Angst vor dem Vater…“). Olga D reist 1906 mit Anna nach Noworossisk, wo diese sich mit Gift das Leben nimmt: offenbar litt Anna unter krankhaften Minderwertigkeitskomplexen, fand, daß sie nur über ungenügende weibliche Reize verfüge und daß Männer sie ausschließlich des Geldes wegen heiraten würden, da sie niemandem gefallen könne. über Olga D ist kaum etwas bekannt: Auf einem Photo des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts steht sie inmitten der Tante des Wolfsmannes, seiner Mutter, seiner Nanja und der Wirtschafterin, hintergründig, dunkelhaarig, skeptisch. Olga N findet Olga D nicht so widerlich wie sie Olga S findet.

Wir befinden uns innen in der Olga-Bar, in Olga sozusagen, auch wenn wir nicht wissen, wie es in Olga ist, wie das in ihr aussieht, was sie aufschreibend beschreibt. Ich in der autobiographischen Schrift ist Nicht-Ich, Ich bin das nicht!, Ich ist ein anderer, eine Olga ist eine Olga ist eine Olga. Niedergeschriebene Geschichte verkleinert sich unfreiwillig zu Geschichten, Erinnerungen ergießen sich, hervorgeholt aus Olgas unvernünftig frisiertem Familienkopf, mit dem sie sich bereitwillig auf gefährliches Glatteis begibt. Doch die vom schwarzen Sturmhimmel herabfahrenden vatermordenden Blitze schlagen wie keine Bombe ein: Sie finden ihren Niederschlag in Form von Kunstschnee von gestern, auf dem massentauglich abfahrtslaufende Menschen vor einem Publikum um Medaillen kämpfen, das Olgas Konzerten fernbleibt. Immer wieder Talfahrt, immer wieder bergab, immer wieder Luzifer: Olga bezeichnet angebotsweise den Abstieg in sich als so steil, daß Abseilen sich empfiehlt. Hier unten herrscht die Untiefe der Tiefe, die alphabetsgemäße Oberfläche des Tagebuch-Gedächtnisses. Olga ist kein realer Raum mit vier fensterlos eingrenzenden Wänden: ein Kompositionsraum und/oder klanglicher Abhang, orchestraler Krater, ein vorgestellter Lebensraum, traum-Haft, angefüllt mit nicht-passenden Notenschlüsseln, verzerrter Akustik und dem Geheul eindeutig weißer Wölfe, die, an Ton- und Zuspielbänder gekettet, ihr eigenes Herannahen in Form von Vätern an nicht existierenden Eingangstüren erwarten. In der Mitte des Raumes, der nicht da ist, ein Fernseher, der nicht an ist. Olga N starrt ihn an. Vor ihr auf und ab laufend Olga S, noch immer im blauen Kleid einer Lehrerin eines Mädchengymnasiums. Sie liest das venezianische Arbeitsjournal der Olga N, korrigiert die ganze Zeit, stehend oder gehend. Von Zeit zu Zeit blickt sie Olga N an und schüttelt fassungslos den Kopf. Olga D sucht in einem vorhandenen Transistorradio einen noch nicht gefundenen Sender mit klassischer Musik. Immer wieder Rauschen, dann kurze Sequenzen von Pop-, Rock- oder Schlagermusik, von Anmoderationen und Nachrichten. Schließlich ertönt Puccini. „La Bohème“. Vielleicht zufrieden genießend lehnt Olga D sich zurück. Olga N empfindet dies als Mißachtung (Grrr!, S. 10). Olga N entscheidet, ihr Platzerl (S. 142) im nicht vorhandenen Raum zu verteidigen. Sie greift zur Fernsehfernbedienung und schaltet das vor ihr stehende Gerät an. Fußball (Yeah! S. 124)!!! Olga N empfindet den Zustand, Teil eines Gesellschafts-Ganzen zu sein, über Sieg und Niederlage zu entscheiden, Linksaußen und Rechtsaußen als zentralen Bestandteil eines Teams zu begreifen. Es gibt Neid auf Familienglück und Tradition und Gebärbereitschaft und Freiheit von Zweifel, aber auch die Unmöglichkeit, das zu leben, wonach Olga N sich zu sehnen wähnt. Weigerung, Teil zu sein, Anteil zu nehmen an einem Dasein, dessen einziges Ziel totale übereinstimmung mit einer mehrheitlichen Einheit bleibt, deren begradigte Gehirnströme sich in ein Meer ergießen, das weniger ist: die Vorgabe heißt Mittelmaß. Geraten wird zur Nachahmung des vorgegebenen Standards, dessen Begrenzung erfolgreich verdrängt wurde. Life is elsewhere, Imitation of life, fishing for a living (S. 226), live your life, life is life, they live!!! Schon wieder zu viel absichtsvoll Gedachtes! Schnell den Verstand vor dem eingeschalteten TV-Gerät ausgeschaltet und heraus aus dem Abseits, das durch ein Schiedsrichterpfeifen bewiesen wird. Olga N legt sich an die Leine wie ein Tier, das nicht mehr wissen will, wie oft es seiner Wildnis entrissen wurde. Sie ist eine vom Aussterben bedrohte Art, die hinter den Gittern eines subventionierten Tierparks gerne gesehen und vorsichtig gefüttert wird. Rote Karte, nein, gelb, noch handelt es sich nicht um einen Platzverweis: Olga N greift zum Entspannungsachterl (S. 171) und wartet auf ausstehende Elfmeter und Freistöße, deren Fallen ein gezieltes rhythmisches Prinzip zu Grunde liegt. Applaudierende Fans. Die schnell improvisierte Welle. Getrampel. Getrete. Getröte. Zuschauerchöre. Sphärenmusik. Auf der Suche nach der verlorenen Halbzeit.

Olga D sucht nichts, sie findet sich zurecht. Die Arie der Musetta hört sie immer schlechter. Sie stört sich an Olga N´s Verhalten (wie eine Depperte! (S. 9)), an dem sie fehlender Takt abstößt. Bei dir tickt es wohl nicht richtig, vertschüss dich (S. 8)! Sie denkt sich über das Medienchaos aus Kommentatorenbariton und Sopranarie hinaus, und da überfällt sie die Frage nach dem Wahnsinn, dem Wahnsinn der Olga N, darüber wie es in Olga N aussieht, ob es da etwas zu sehen gibt, was einem normalerweise verborgen bleibt. Sie stellt die Frage nicht, die Frage überfällt Olga D. Was wird sie in Olga, in der sie nichts zu suchen hat, vorfinden? Die überfülle ihrer übersensibilität, die Bereitschaft zum Gleichgewichtsverlust, die äußerung der Entäußerung, Sinn des Unsinns, Logik des Idiotischen, Zielstrebigkeit des Abwegigen, die selbst verpaßte Zwangsjacke bei gleichzeitiger Verweigerung des ausgeschnitteten Abendkleides, des Pfennigabsatzes, des Moderatorinnenlachens? Olgas Innenwelt eine Gummizelle, in der ihre Kompositionen auf tonlose Außenwelten stoßen? Oder ist Wahnsinn nicht blindlings, sondern der hellsichtige Versuch, sich einer schwierigen Frage zu stellen (S. 16)? Olga D überlegt. Sie fragt sich, weshalb sie sich fragt, was sie sich sonst nicht fragt. Und weiß keine Antwort. Ist das der Wahnsinn: Die Frage nach der Frage, die nicht beantwortet wird, weil es keine Antwort auf eine Frage gibt, die es nicht gibt? Olga D zensiert sich, sie hat ja einen Ekel vor übertretungen, überhaupt einen tiefen Ekel, der sich ihr von innen heraus nähert, aber sie verweigert, sich auf sich einzulassen, was soll das, das ist ja witzlos, schon beinahe wortlos, trostlos, eine große Verständnisnot breitet sich in Olga D aus, bereits jenseits der Grenze zur Mitteilbarkeit, unterwegs zur Unverständlichkeit, inmitten eines Zustandes der Unsagbarkeit. So kreist eine um sich, so geht es nicht weiter: Olga D greift auf den Unterhaltungsfaktor fraglos großartiger Musik zurück. Sie wirft Olga N einen aberkennend trennenden Blick zu. Sie stellt Puccini so laut wie nie. Musik, die immer jung bleibt und nie neu wird. Nie Nono. Mimi.

Olga S korrigiert sich in die Künstlerin hinein, Rechtschreibungs-, Ausdruck-, Anschlußfehler markiert sie in maßlos wuchernden Olga-Innereien, eine Organreise auf Abenteuerbasis, abonnementfreie Eintrittskarte in fremdländisch unbekannte Innenwelten, in die kein Pauschalurlauber einzutreten wagt. Tief sticht die mit roter Tinte gefüllte Feder in die Seiten, ein Knirschen verursachend, einen Schmerz, ist das ein Herzversagen, wie schreibt man das, wer macht so etwas? Der Kopf, der Kopf schmerzt, der Kopf…Die mit ausgestellter Herablassung gelesenen Seiten kleben an Lehrerinnen- und Schulleiterinnenfingern der Olga S, deren heimlicher Einsichtsversuch aussichtslos bleibt. An wen richtet sich die Schrift? Weshalb werden Erlebnisse künstlich wieder belebt, Tage auf ihre allgemein verständliche Mitteilbarkeit abgefragt und Ansichten aufgelistet? Leben als Nachtrag, als behauptet spontane Gegenwart, mit Leser, Vater, Nachwelt als abwesendem Gesprächspartner. Gedächtnisballast, Gedankenblase, Vergangenheitslast, andauernd andauernde Traumata, Gegenwartsvakuum, Zukunftspanik, gar nichts, gar nichts, gar nichts, was Olga S goutiert. Ich hör sowieso nichts, was für Dummheiten du auch sprichst, ich hör sowieso nichts. Sie findet mich eklig, denkt Olga S sich, sie findet mich eklig, quält Olga S sich, weshalb will ich von denen geliebt werden, die mich ablehnen? Die ich ablehne? Sie geht der Frage nicht nach und schlägt S. 62 auf: „Als junger Mensch braucht man Wärme, Vertrauen, Zuspruch und Zuneigung, sonst hat man später kein Vertrauen in die Menschen.“ Olga S runzelt die Stirn. Verzeih, aber ich kann das nicht ertragen. Weshalb kann man das Wahre nicht mehr sagen? Nichts ist im Moment des Aussprechens noch echt. Das Erfahrbare sentimental, das Innenleben Klischée, komm, wir wollen die Welt umarmen, einmal richtig die Seele baumeln lassen, mit dir kann man reden, das hat mich betroffen gemacht, dich nicht, das ist wichtig!, ich liebe dich. Weshalb kann man das Wahre nicht mehr sagen? Verzeih, aber ich kann das nicht ertragen. Ich habe es schweren Herzens auch nie leicht gehabt, das läßt das Leben sich nicht nehmen, das Ende ist immer länger, als ich denken kann. Die Grenzen der Zumutbarkeit sind ein nicht erreichbares Ziel, dem Menschen wird exakt soviel Last aufgegeben, wie er verkraften kann, so daß er nach jedem Zusammenbrechen wieder zu Kräften kommt. Vor einem Jahr, als Vater starb, habe ich an etwas Vollbrachtes gedacht, aber noch ist er noch immer da. Alles geschieht nicht so, wie wir es wollen. Heute habe ich sein Heulen wieder gehört. Ich habe keine Zeit und keine Gefühle zur Verfügung, um nachzuspüren. Ich werde arbeiten. Arbeiten. Arbeiten. Rechtschreibungs-, Ausdrucks-, Anschlußfehler werden von der Lehrerin Olga S erkannt und gebranntmarkt, Schichten bis zu zwölf Stunden werden geschoben. Olga N schreibt zu viele Noten. Olga N verschreckt Abonnenten. Olga N bleibt unverständlich, befremdlich, zeitgenössisch. Das ist falsch. Das ist nicht richtig. Das ist nicht Brahms, Bruckner, Wagner und wird auch nie Verdi, Donizetti und Rossini. Das kommt niemals auf die Bühne der Wiener New Yorker Züricher Oper mit Gruberova, Alagna oder Baltsa. Zu Recht kommt das niemals auf die Bühne der Wiener New Yorker Züricher Oper mit Gruberova, Alagna oder Baltsa. Olga S in Fahrt, vorwärts, endlich weggewendet, endlich rücksichtslos einen Schritt voraus in schmerzenden Schuhen, die nicht ausgezogen werden. Ein Rahmen, ein Aufatmen: Korrigierend fühlt sie das Leben wieder. Das Leben, das andere führen, geht auf einmal wieder, Olga S ist wieder in vorzeigbarer Form. Du bist dumm. Du bist die Dümmste in der ganzen Familie. Neue Musik ist sinnlos und wäre ohne Subventionen tot. Neue Musik ist tot. Ich nicht, denkt Olga S sich. ICH NICHT. Musik ist manipulierbar (S. 107), denkt Olga N und fragt sich, wie sie braver Angepaßtheit und Erstarrung in Richtung eines unklaren Anderen entkommen kann. Die einheitlich gekleideten Mitglieder der Fußballmannschaften fragen sich das nicht: Sie haben mit dem Spielfeld ihren optimalen Platz in der Gesellschaft gefunden. Dort ist der Ball rund und Olga N abwesend mit ihren potentiellen Regelverstößen, die nicht mit Platzverweis und roter Karte, sondern mit mangelnder Bezahlung geahndet werden. Mit grundsätzlicher Benachteiligung. Teilnahmslosigkeit. Totalverweigerung. Ist Olga N ein Opfer? Ein Anachronismus? Ein Luxus, den sich niemand mehr leisten will? Ein Exot, dem im eigenen Land die Einreise verwehrt wird? Muß sie deshalb als Komponistin einen Himmel stürmen (S. 121), den sie selbst unbewohnbar gemacht hat, statt wie andere auf einen schönen, möglichen und zulässigen Regenbogen zu sehen? Warum die Frage nach dem Warum stellen (S. 258), statt ein Polstermöbel- und Grillfestleben zu führen, zu dem sich Freunde und Familie gerne einladen lassen? Warum nicht? Warum? Olga N kann sich zum Glück, das sie hat, nicht entkommen. Die Frage nach dem Warum stellt sich nicht. Sie ist. Das Anderssein, Außerseitersein, Außer sich über die Außenwelt und sich selbst sein ist vielleicht schwer auszuhalten. Absichtlich anders zu sein und nicht anders zu können, ist möglicherweise ein Umweg. Aber der Umweg ist der einzig mögliche Weg, die einzige Verweigerungsmöglichkeit in einer Zeit, deren geradlinig eingemeindende Vorgehensweise weder Widerstand noch Verschnaufpause aushält. Olga N schwört sich, immer wieder vom rechten Weg abzukommen, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Außer sich zu sein, um eine Selbsterfahrung zu haben. Ein Selbstgefühl, um nicht die Orientierung in sich zu verlieren, während sie mit dem Strom schwimmt, gegen den sie nicht ankommt. Das Ich ist vielleicht an sich nichts, denn es muß ihm alles gegeben werden. Aber Olga N schwört sich, alles zu geben. Das außer dem Sein sein, ist vielleicht kein einfaches Sein, denkt Olga N sich, aber immerhin bin ich nicht selbstblind. Und taub bin ich auch nicht. Ich bin Komponistin. ICH BIN. Und da ist es auf einmal schlagartig schwarz. Kein Puccini. Kein Fußball. Ausfall von Strom und Einfall von Stille, den weder Olga N noch Olga S noch Olga D will. Still, still, still, weils Kindlein schlafen will. Weshalb ist das ein Zustand, der von allen dreien als Ruhe vor dem Sturm begriffen wird? Das neugierige Ticken von Olgas Uhr, die vorgeht. Das vorwitzige Knirschen der Feder, die weiter will. Das Rauschen wahnsinnig gut funktionierender Gehirnströme, die in das Weltenmeer einfließen werden. Das Frostklirren der Erinnerung, ächzende Gelenke eines Gedächtnisses, das nicht vergessen darf, womit es früher vollgefüllt wurde. Die Gegenwart. Man dreht und wendet sich und fragt sich nicht. Geflohen will auch werden, aber der einzige Ausgang markiert den Ausnahmezustand. Verdammt! Aber jetzt erst einmal Stille, drei Frauen atmen und müssen nicht lange warten, bis der Schlachtenlärm losbricht, die Erleichterung eintritt. Der Angriff kommt von außerhalb des Raumes, den es nicht gibt, die Frauen vereinen sich instinktiv, vereinen sich gegen den Feind, den Gegner, für den es Gräber gibt, aus denen er immer wieder aufersteht, herbei gesehnt, herauf beschworen wird. Karneval, Silvesternacht, Bählamms Fest, Hochzeitsnacht, Polterabend oder Schlacht: Heute heulen die Sirenen wie Wölfe, fliegen die Kugeln wie Knallfrösche, und der Gefahrenhimmel verfärbt sich schließlich pelzig weiß. Pfoten an Kanonen und Gewehrläufen, Mäuler voll geheuchelter Freundlichkeit und Liebesbezeigungen, Schwänze, die aus Uniformen hängen und sich pudelwohl fühlen. Dahinter – stets bei Fuß – parierende Ehefrauen, hundeelend, hundemüde, auf den Hund gekommen und doch pflichtbewußt darauf bedacht, daß ihr kopfloser Nachwuchswurf nirgendwo anstößt. Wieder dahinter die Kinder, die wie die Lemminge in einen Lebensvorschlag hinabspringen, dessen Flachheit tödlich sein kann. Und allen voran Vater, keine vom Aussterben bedrohte Tierart: der Hahn im Familienkorb, der Salonlöwe, das Charakterschwein, das Unschuldslamm, des Pudels Kern, der Wolf im maßgeschneiderten Schafspelz, die Welt bricht ein im Sonntagskleid. Ist es schon wieder soweit? Schon wieder Vergangenheit. Schon wieder wie immer, denkt sich Olga D und wimmert. Olga D steht neben Olga S, die neben Olga N steht. Olga N bewegt sich, stellt sich mittig und sagt HOOLOOMOOLOO. Sie sagt es nicht, nein, sie schreit, in ihr heulen heimische Wölfe. Und dann fallen Olga D und S mit ein: das Kindlein, das nie schlafen konnte, ist erwacht und schreit. Die ganze Olga DNS schreit: HOOLOOMOOLOO! HOOLOOMOOLOO! HOOLOOMOOLOO! SPLEEN! EINS! UND ZWEI! UND DREI! Atemholen, dann: VAMPYROTHEONE! ELFI UND ANDI! DIE SCHAMLOSEN! KöRPERLICHE VERäNDERUNGEN! KöRPERLICHE VERäNDERUNGEN! KöRPERLICHE VERäNDERUNGEN! LET`S PLAY, PLAY, PLAY! SANS SOLEIL! THE LONG RAIN! ECSTALOOP! ECSTALOOP! Langsam beginnt es, Spaß zu bringen, kein Schreien mehr, ein Kreischen, ein Einssein, ein Dasein: PHOTOPHORUS! ANAPTYXIS! LONICERA CAPRIFOLIUM! BäHLAMM! BäHLAMM! BäHLAMMS FEST! REMEMBER! SO SIMPLE! CAN`T HELP IT! THE WITCH! Und Olga N schreit noch hinterher: HOMMAGE A KLAUS NOMI! VIER SONGS FüR COUNTERTENOR UND KLEINES ENSEMBLE! ZUSAMMENGESTELLT UND ARRANGIERT VON OLGA NEUWIRTH! Und alle: VON OLGA NEUWIRTH! Stille. Jetzt ist es wieder still, still, still. Das Publikum, das eben noch da war, hat sich, wie üblich, verschreckt verflüchtigt. Olga steht da und denkt nach und versinkt schließlich in sich. Keiner da. Wieder mal keiner da. Olga steigt in sich auf und bewältigt die steile Treppe, als sei sie Aufstieg gewohnt. Oben. Keiner da. Aber sie könnten wiederkommen. Eine Feder, ein Fernseher, ein leerer Raum, der nicht ist. Etwas endlich erfolgreich Verdrängtes. Da ist nichts. Ein wahrnehmbares Nichts. Eine Welt, die noch wahrgenommen werden muß, ein Blick, der noch nicht bestätigt ist, ein Zustand, der noch nicht benannt ist. Nichts. Endlich! Endlich, sagt Olga sich, bin ich der Welt abhanden gekommen. (Olga freut sich) Ich bin der Welt abhanden gekommen! Gestorben dem Weltgetümmel!, die Welt, die Welt: Ach, daß die Welt so licht! (Olga sehnt sich), Die Welt, so groß, so wunderbar!, Eine Welt, die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen! (Olga weigert sich) World shut your mouth, (Olga erinnert sich) CONSTRUCTION IN SPACE, LA VIE – ULCÉRANT(E), The Creation! The Creation! The Creation! Komponieren! Senza niuna impazienza sognerò / Mi piegherò al lavoro / Che non può mai finire! Nachdenken, ärmel hochkrempeln, Kaffee und es kann losgehen. Es wird losgehen. Wortlos. Komponieren! Das tue ich absichtlich. Endlich! ICH!

abgedruckt in: Olga Neuwirth. Bählamms Fest. Ein venezianisches Arbeitsjournal 1997-1999. Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2003.