Einen Kirschbaum (voll erblüht). Einen Fabrikschornstein. Sonnenstrahlen, die durch einen unruhigen Wolkenhimmel brechen. Mehrere, aufgrund der letztjährigen Renovierung und Fassadenerneuerung ungenutzt wirkende Mehrfamilienhäuser: Das sehe ich durch das geöffnete Fenster zu meiner Rechten. Ich höre herannahende und sich wieder entfernende Automotoren. Das Niesen eines (vermutlich männlichen) Passanten. Und aus dem Nebenzimmer am Klavier gespielte Passagen aus Verdis „Macbeth“. Das alles ergibt wenig Sinn oder Zusammenhang. Und doch ist es ein Absatz, ein erster, geschaffter Absatz auf dem Weg zu einem Text anlässlich deines sechzigsten Geburtstages, lieber Rainer, den ich mir vorgenommen und gleichzeitig leichter vorgestellt habe.

Absatz Nr. 2 beginnt damit, dass ich schriftlich festhalte, wie wenig wir uns eigentlich kennen. …

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FÜR RAINER GOETZ ZUM GEBURTSTAG
VON THOMAS JONIGK

Einen Kirschbaum (voll erblüht). Einen Fabrikschornstein. Sonnenstrahlen, die durch einen unruhigen Wolkenhimmel brechen. Mehrere, aufgrund der letztjährigen Renovierung und Fassadenerneuerung ungenutzt wirkende Mehrfamilienhäuser: Das sehe ich durch das geöffnete Fenster zu meiner Rechten. Ich höre herannahende und sich wieder entfernende Automotoren. Das Niesen eines (vermutlich männlichen) Passanten. Und aus dem Nebenzimmer am Klavier gespielte Passagen aus Verdis „Macbeth“. Das alles ergibt wenig Sinn oder Zusammenhang. Und doch ist es ein Absatz, ein erster, geschaffter Absatz auf dem Weg zu einem Text anlässlich deines sechzigsten Geburtstages, lieber Rainer, den ich mir vorgenommen und gleichzeitig leichter vorgestellt habe.

Absatz Nr. 2 beginnt damit, dass ich schriftlich festhalte, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Meine Zuneigung hast Du dir nicht erarbeiten müssen, sie hat sich instinktiv gezeigt, beiläufig, bereits bei unserer ersten Begegnung, die ich nicht rekonstruieren möchte. Und die ich, selbst, wenn ich wollte, nicht rekonstruieren könnte, weil ich ein bemerkenswert schlechtes Gedächtnis habe, in dem Nachweisbares wie Orte, Uhrzeiten, Wortwechsel und Gesprächsthemen zum Verschwinden verdammt sind. Oder dazu, mit anderem verwechselt zu werden und in der Chronologie der persönlichen Geschichtsschreibung Chaos zu stiften. Trotzdem: Es hat eine erste Begegnung zwischen uns gegeben. Und davor hatte man mir bereits von dir (über dich) erzählt. Was, das werde ich nicht schreiben. Nur soviel: Rückblickend finde ich es zutreffend.

Sechzig. Das ist gleichzeitig viel und ein Versprechen auf mehr. Ich wünsche Dir möglichst wenig schlechte Literatur lesen zu müssen. Und gleichzeitig nichts mehr, als mit abseitiger, sinnloser, aufmüpfiger, unzumutbarer Dichtung weiterhin beschenkt zu werden. Ich wünsche Dir, dass das Brutale und Rabenschwarze dir sinnlich und verführerisch erscheint, das Abseitige und Aussterbende unersetzlich und überlebensnotwendig. Dass das Widersprüchliche, Fragmentarische, Angedeutete und Unverständliche dir weiterhin einleuchtet. Friedrich Schlegel schreibt, „dass die Worte sich oft besser verstehen, als diejenigen von denen sie gebraucht werden.“ In dem Sinn wünsche ich dir, unzählige Einblicke und Einsichten in die Abgründe hinter die Buchstaben des Alphabets. Lesende Berg- und Talfahrten.

Das Weltall, verwandelt in einen Sonntagnachmittag (Cioran).

Deine Lebenszeit soll eine lesende sein. Eine wohlhabende. Aber auch eine reisende. Eine sorglose, lachende und genussvolle (in kulinarischer, aber auch in sinnlicher Hinsicht). In Bezug auf dich selbst eine freundliche. Eine, in der der Blick zurück einsichtig, vor allem aber der Blick voraus neugierig, abenteuerlustig und unzynisch ist. Fußnote Nr. 1: Du darfst auch grantig sein. ängstlich. Oder neurotisch. über dich hinaus wachsen. Oder bleiben, wie du bist. Die in diesem Absatz aufgelisteten Wünsche bitte nicht mit Vorschriften oder Befehlen verwechseln….

Absatz Nr. 5 enthält Zitate, die mir beim Schreiben dieses Textes im Kopf herumgeistern. Ich trug die Scham meiner überflüssigkeit (Paul Nizon). Und nochmal Nizon: Der freie Fall ist so etwas wie der aufrechte Gang. Elfriede Gerstl: ich stecke ja schon bis zum Hals drin, einzementiert in die Ewigkeit. Und vor kurzem entdeckt: DIE SONNE IST 1 SCHWACHSINN, etc (Friederike Mayröcker). Und von der selben Autorin: Was der Künstler kann ist 1 Nichtkönnen. / Tiefstes Denken macht oft nur eine kleine staunende Bewegung (Robert Walser). / Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit (Friedrich Wilhelm Schelling). / Im Garten blühn schon ein Weilchen / Schneeglöckchen, Krokus und Veilchen / Da hab ich nicht lang bedacht / und ein schönes Sträusschen zurechtgemacht. / Das bringe ich dir zum Geburtstagsfest. / Der Frühling dich schön grüssen lässt. / Er sagt mit allem Sonnenschein, / kehrt er so gerne bei dir ein. / Damit dein neues Lebensjahr / sei sonnig, fröhlich, hell und klar. (Friedrich Wilhelm Güll) Das letzte Zitat ist Resultat einer Google-Recherche zum Thema Geburtstagwünsche Geburtstagsgrüsse. Es ist ja dein sechzigster, ein besonderer…

Nichts ist lähmender als Geheimnislosigkeit. Da ist das Alter schon etwas anderes. Ich hoffe, Du wirst ihm vieles abgewinnen können, das dich selbst überrascht.

Gewitter. Blitze. Der Blick aus dem Fenster ist jetzt ein gänzlich anderer, vor mir ein ausgetauschter Ausblick. Was soll mir das sagen? Gar nichts, vermute ich. Trotzdem schliesst sich damit etwas, von dem ich nicht weiss, was es beinhaltet, auch wenn es um dich kreist. Ich kann dich (Rainer Goetz) nicht beschreiben. Mache ich den Versuch, fällt mir ein, dass deine Emails eher Gedichten als geschäftlichen Mitteilungen gleichen. Dass dein Sprachwitz gleichzeitig zart und bissig ist, ebenso altmodisch wie innovativ. Und dass der seriöse Herr in den besten Jahren, der mir in meiner Zürcher Wohnung, im Café Korb oder im Gasthaus Wild gegenüber sitzt, nie aufgehört hat, der jüngere von zweien zu sein, kein Kind, aber der jüngere. Derjenige, der entdeckt, entführt, ins Licht gezerrt werden will. Der an dem, was er seinem Gegenüber verschweigt (vorenthält), seinen Wert festmacht. Vielleicht stimmt das nicht. Aber so würde ich einen dir nachgebildeten Romanhelden beschreiben. Fußnote Nr. 2: Keine Angst: Pläne dieser Art bestehen nicht…

Die Klugheit ist die Tapferkeit der Alten, ein (altes) Sprichwort. Davon (von der Klugheit) hast du hinreichend. Und weil meine Eltern mit fünfundvierzig bzw. fünfzig gestorben sind, habe ich das Gefühl, sechzig zu sein bedeute, ein hohes Alter erreicht zu haben. Andererseits (Ausnahmen bestätigen die Regel) finde ich junge Menschen zunehmend unerträglich. Mir bleibt demnach nichts anderes übrig, als es dir nachzumachen. Gut, dass die glamorösen Selbstmordfantasien des vierzehnjährigen Schülers in der norddeutschen Provinz von mir nicht in die Tat umgesetzt wurden.

Absatz Nr. 9: Henning Weiß und Dirk Ivers jagen mich durch eine Kleingartensiedlung. Ich bin schneller als sie. Trotzdem höre ich, mit welcher Häme und Verachtung ihre verzerrten Stimmen mir hinterherrufen. / Ich betrete mein Kinderzimmer. Ich bin fünf oder sechs und blicke enttäuscht um mich. Ich hatte mehr vom Leben erwartet. / Um Punkt 15 Uhr wird zuhause der Fernseher eingeschaltet. / Meine Eltern feiern ein Grillfest mit unseren Nachbarn. / Der Klassenlehrer Herr Sommer schlägt mich mit einem Lineal, weil ich während des Unterrichts mit meinem Sitznachbarn geredet habe. Ich bin in der 3. Klasse. Es ist 1975. / Gabi, die Tochter unserer Nachbarn von gegenüber regt sich über ihre Eltern auf. Sie beendet ihren Ausbruch mit einem lapidaren Achselzucken und sagt: „Was solls. Später bin ich auch nicht anders.“ / Ein hässlicher und nach Schweiß riechender Junge kommt selbstbewusst auf mich zu und fragt, ob es stimmt, dass ich auch schwul sei. „Dann“, sagt er, „sind wir schon mal zwei. Das macht es viel leichter“. / Von eins bis drei ist Mittagsstunde. / Eine dicke, rotgesichtige Nachbarin ruft mir „Herr Professor“ hinterher, als ich auf dem Weg zur Schule an ihrer Wohnung vorbeigehe. Ich bin sieben Jahre alt und für die Frau ist „Professor“ ein Schimpfwort.

Das (siehe oben) sind Bilder (Situationen), die mir spontan einfallen, wenn ich daran denke, wie es war, jung zu sein. Natürlich hat es auch schöne, berührende Erlebnisse gegeben. Zum Beispiel sehe ich mich in der Stadtbibliothek. Dort gehe ich aufgeregt die Regale ab und leihe jedes mal zehn Bücher aus: Mehr sind nicht erlaubt. Zuhause lege ich sie auf den Fußboden und wähle unter Zuhilfenahme verschiedenster Abzählreime aus, welches Buch zuerst gelesen werden darf: ein Fest. Und trotzdem möchte ich nicht wieder jung sein. Ich bin dankbar für die Erkenntnisse, die ich im Laufe der Jahre über mich gewonnen habe. Sie ersparen Umwege und Abstürze, bewahren von abwegigen Hoffnungen oder Zielsetzungen. Selbsterkenntnis macht das Leben nicht leicht, aber immerhin lesbar. Lebbar. The best is yet to come.

Ich bin so jung, und die Welt ist so alt (Georg Büchner).

Gesundheit. Lebensfreude. Zufriedenheit. Freunde. Anregende Gespräche. Der Einbruch des Unvorhergesehenen, Schönen in den Alltag. Hysterische Lachanfälle. Höhepunkte. übung im Ungehorsam. Hingabe. Annahme. Tiefer, traumreicher Schlaf. Geistige Klarheit bis hin zur Weisheit. Möglichst viele Begegnungen mit Menschen, an denen dir liegt (von meiner Seite aus sehr gerne mit mir…). Et cetera, et cetera…

Was bleibt zu wünschen?

Als Kind hatte ich die Angst, die Bäume, Sträucher und Hecken würden, nachdem sie einmal ihr Laub abgeworfen haben, nie wieder grün. Je grimmiger der Winter, dester tiefer die panische Erkenntnis, dass die Welt zukünftig eine graue, unerträgliche sein würde. Es hat mich zwanzig bis dreißig Jahre gekostet, bis ich begriffen habe, dass ich ihn wiedersehen werde (beispielsweise): den Kirschbaum (voll erblüht).

Rainer Goetz ist Lektor beim Literaturverlag Droschl und lebt in Graz.