Gedanken zur Homosexualität in Europa, im Theater und in meinem Stück „Hotel Capri“

von Thomas Jonigk

abgedruckt in:
Programmheft Residenztheater Spielzeit 2013/14

1. Mein Theaterstück „Du sollst mir Enkel schenken“ ist eine schwarze, gnadenlose Komödie, die 1994 in der Regie von Stefan Bachmann am Schauspiel Bonn zur Uraufführung kam. Der Inhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Im Zentrum steht ein junger, namenloser Mann, kaum als Identifikationsfigur geeignet: Er ist faul (Student im 26. Semester), opportunistisch („Ich drücke die Hand meines Landes in Freundschaft.“) und misogyn („Von Natur aus sind Männer die schöneren Geschöpfe.“). Das einzige, was seiner Deckungsgleichheit mit den Standards männlicher Norm im Weg steht, ist seine sexuelle Orientierung: Er ist schwul, eine Tatsache, die seine auf (männlichen) Nachwuchs fixierte Mutter nicht anerkennt und alle Mittel auffährt, um das drohende Aussterben ihrer Familie (und eine damit verbundene ideologische bzw. biologistische Schwächung der Nation) zu verhindern. Im Rahmen der Premierenfeier klopfte mir ein der Toleranz und Aufgeschlossenheit besonders verpflichteter Intendant wiederholt auf die Schulter und fragte, warum es denn überhaupt noch notwendig sei, Stücke über Schwule zu schreiben. „Ihr werdet doch überhaupt nicht mehr diskriminiert. Ihr Schwulen seid doch mittlerweile …

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ABWEICHUNG & GLEICHSTELLUNG

Gedanken zur Homosexualität in Europa, im Theater und in meinem Stück „Hotel Capri“

von Thomas Jonigk

1. Mein Theaterstück „Du sollst mir Enkel schenken“ ist eine schwarze, gnadenlose Komödie, die 1994 in der Regie von Stefan Bachmann am Schauspiel Bonn zur Uraufführung kam. Der Inhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Im Zentrum steht ein junger, namenloser Mann, kaum als Identifikationsfigur geeignet: Er ist faul (Student im 26. Semester), opportunistisch („Ich drücke die Hand meines Landes in Freundschaft.“) und misogyn („Von Natur aus sind Männer die schöneren Geschöpfe.“). Das einzige, was seiner Deckungsgleichheit mit den Standards männlicher Norm im Weg steht, ist seine sexuelle Orientierung: Er ist schwul, eine Tatsache, die seine auf (männlichen) Nachwuchs fixierte Mutter nicht anerkennt und alle Mittel auffährt, um das drohende Aussterben ihrer Familie (und eine damit verbundene ideologische bzw. biologistische Schwächung der Nation) zu verhindern. Im Rahmen der Premierenfeier klopfte mir ein der Toleranz und Aufgeschlossenheit besonders verpflichteter Intendant wiederholt auf die Schulter und fragte, warum es denn überhaupt noch notwendig sei, Stücke über Schwule zu schreiben. „Ihr werdet doch überhaupt nicht mehr diskriminiert. Ihr Schwulen seid doch mittlerweile total akzeptiert. Wo also“, lächelte er, „ist das Problem?“ Mein Gesichtsausdruck muss ihn dazu veranlasst haben, wiederholt zu betonen, dass ich ihn nur ja nicht falsch verstehen solle: Er sei immer schon für Gleichstellung gewesen.

2. Die diesjährige Münchner CSD-Parade hat sich durch besonders massive Präsenz der verschiedensten Parteien und ihrer Vertreter(innen) ausgezeichnet: SPD, FDP, Grüne, Die Linke, Piraten etc waren mit eigenen Wagen vertreten. Kultusminister Ludwig Spaenle und OB-Kandidat Josef Schmid von der CSU ließen sich mit einigen fotogenen Vertretern der von CSU-Generalsekretär Dobrindt als „schrille Minderheit“ titulierten Teilnehmer der Parade ablichten, der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) eröffnete dieselbe sogar. Die Beispiele für demonstrierten Willen zur Toleranz sind inflationär: Obwohl von politischer Seite betont wurde, der CSD sei nicht als Wahlkampf misszuverstehen, wird deutlich, dass Schwule und Lesben als potentielle Wähler und Wählerinnen mit ihren Anliegen und Forderungen mittlerweile zur Kenntnis genommen werden (müssen). Ebenso wie als Konsumenten und Konsumentinnen. Als Steuerzahler und Steuerzahlerinnen. Als Trendsetzer und Trendsetzerinnen. Als Kunstschaffende und Kreative. Als Ehepaare. Und als kirchensteuerpflichtige Mitglieder der offiziellen Kirchen. Selbst Papst Franziskus hat sich jüngst gegen die Ausgrenzung Homosexueller ausgesprochen („Wenn jemand Gott mit gutem Willen sucht, wer bin ich, dass ich urteile?“), Befreiungsschlag und Hohn zugleich. Doch auch wenn die Motive, für Homosexuelle Partei zu beziehen, berechnende bzw. gewinnorientierte sind, ist das ein Fortschritt. Kapitalismus macht’s möglich.

3. Beispiel Nummer 1: Wer sich öffentlich oder in Anwesenheit von Kindern neutral oder positiv über Homosexualität äußert, dem drohen in Russland Geldstrafen bis zu einer Höhe von 25000 Euro. So der zusammengefasste Inhalt des sogenannten, von Wladimir Putin unterzeichnetem Gesetzes gegen „Homosexuellen-Propaganda“. Das Gesetz liefert eine Vorlage für die Verfolgung von Schwulen und Lesben in Russland und schon jetzt ist von Nationalisten zu hören, die Jagd auf Homosexuelle machen, z.B. indem sie sie zu angeblichen Dates locken, sie dort misshandeln und filmen. Videodokumente kursieren im Internet. Beispiel Nummer 2: Der Friedensnobelpreisträger Lech Walesa sagte Anfang März 2013, Homosexuelle seien eine schlimme Randerscheinung der Gesellschaft, die nicht auf den Straßen herumzumarschieren hätten und im Parlament in der letzten Reihe sitzen sollten: „Oder vielleicht noch besser außerhalb der Parlamentsmauern.“ Beispiel Nummer 3: In der Ukraine kursieren zur Zeit zwei Gesetzesentwürfe: 1155 und 0945. Laut ersterem soll jeder bestraft werden, der den Eindruck erweckt, homosexuelle Beziehungen seien ähnlich normal wie „traditionelle“ . Auf wiederholtes Handeln drohen bis zu sechs Jahren Gefängnis. 0945 soll homosexuelle Inhalte in Medien, Büchern, Kinofilmen etc verbieten. Höchststrafe: Fünf Jahre Gefängnis. Ziel der Entwürfe: Der Schutz von Kindern und den Werten der Familie. Beispiel Nummer 4: In Ungarn sind Homosexuelle rechtlich gleichgestellt. Bence Rétvári, konservativer Staatssekretär für Justiz und Vizepräsident der Christdemokraten, hat das Zusammenleben Homosexueller „unchristlich“ genannt. Seine Partei will den Paragraphen streichen, der das Zusammenleben von Lesben und Schwulen mit dem von Heterosexuellen gleichsetzt, weil sonst der Wert der Ehe untergraben werde. Beispiel Nummer 5: Während der Film „La vie d’Adèle“ (eine lesbische Liebesgeschichte) die Goldene Palme der Filmfestspiele in Cannes gewinnt, demonstrieren Zehntausende Franzosen in Paris gegen die sogenannte „Homo-Ehe“

4. Die „Homo-Ehe“. 2001 trat in Deutschland das Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft in Kraft. Am 6. Juni 2013 urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dass das Ehegattensplittung auch für homosexuelle Paare zu gelten habe. Kurz danach wurde auch die komplette steuerliche Gleichstellung derselben beschlossen. Während in vielen Ländern Europas (und auch hier) die homosexuelle Lebensweise eine gefährdete bzw. abgeleugnete ist, sprießen in Mitteleuropa und Skandinavien schwule Konservative, schwule Väter und gleichgeschlechtliche Ehepaare mit Kinder- bzw. Adoptionswunsch wie Pilze aus dem Boden. Und auch ich selbst bin seit 2008 mit einem Mann verheiratet. Für mich persönlich ein großes Glück, doch gesamtgesellschaftlich stellt sich die Frage, worum es diesbezüglich geht. Haben endlich alle das Recht auf Spießigkeit, Bürgerlichkeit und totale Gleichheit? Eliminieren sich Schwule und Lesben selbst in ihrer unaufhaltsamen Angleichung an eine Norm, deren Enge niemals Abweichung bzw. Variation beinhalten wird? Ein kurzer Blick auf stetig steigende Scheidungsraten, stetig sinkende Geburtenzahlen, wachsende Erziehungsdefizite und emotionale Vernachlässigung von Kindern durch ihre Eltern erlaubt die Frage, ob das Konzept von Ehe und Kleinfamilie nicht ein aussterbendes ist, eines, das heterosexuellen Männern und Frauen mittlerweile selbst zu viel bzw. zu wenig geworden ist. Heißt das, dass ab sofort vorbildlich assimilierte und integrationsbereite Homosexuelle dieses Konzept stützen und (er-)tragen helfen? Ist echte gesellschaftliche Akzeptanz Homosexueller nur dann möglich, wenn diese so heterosexuell wie möglich werden? Sich so sehr angleichen, bis mit dem bloßen Auge keine Differenz mehr erkennbar ist? Arbeiten wir alle auf eine Zeit des kleinsten gemeinsamen Nenners und des Konsenses hin, auf Identitäten ohne Unterschiede? Aus meiner Sicht ganz sicher nicht das Paradies: Aber unter dieser Maßgabe wäre immerhin endlich eine schwule Fussballnationalmannschaft denkbar.

5. „Es ist nicht gut oder schlecht, homosexuell zu sein, es ist“, schreibt Carolin Emcke in „Wie wir begehren“ (2012). Die Autorin erzählt in ihrem autobiographisch durchsetzten Buch von Kindheit und Jugend im Deutschland der siebziger und achtziger Jahre und vom Versuch, Sprache und Lebensausdruck für das eigene Anderssein und ein noch unbestimmtes Begehren zu finden. Die unterschiedlichsten Formen des Begehrens (denn auch unter dem Überbegriff „Homosexualität“ finden sich unzählige, sich gegenseitig ausschließende Varianten von Sexualität und Verlangen) werden von Emcke als grundsätzlich ebenbürtig und beglückend erkannt. Darüber wird die Notwendigkeit von Anderssein, von Differenz evident. Denn auch wenn in Zentraleuropa zunehmend positive Beschreibungsversuche für Homosexuelle existieren, so sind diese doch festlegende und fremdbestimmende Wahrnehmungen, die entweder zu Anpassung oder Exotik verpflichten – und stets in Konkurrenz zu einer Norm gedacht werden, statt Abweichung als eine Möglichkeit unter vielen zu betrachten. Keine bessere. Und erstrecht keine schlechtere.

6. Um noch einmal auf die Frage des aufgeschlossenen Intendanten zurückzukommen, warum es denn überhaupt noch notwendig sei, Theaterstücke mit schwulen Inhalten zu schreiben: Darum. Auch heute, beinahe zwanzig Jahre nach der Uraufführung von „Du sollst mir Enkel schenken“. Der Kanon von Dramen, die sich unverstellt mit dieser Form des Begehrens auseinandersetzen, ist klein, die Erzählanlässe so gelungener Stücke wie „Jagdszenen aus Niederbayern“ von Martin Sperr oder „Angels in America“ von Tony Kushner sind die Unmöglichkeit des schwulen Lebens oder Krankheit und Tod, nicht aber die Dokumentation von Homosexualität als Möglichkeit, in ihrer Gewöhnlichkeit, ihrer Banalität, ihrer Erfüllung oder Unvergleichlichkeit im Verlauf der Jahrhunderte, im Hier und Jetzt. Die Bühne ist der Ort, an dem der Mensch in seiner Vielschichtigkeit, Überforderung, falschen Selbsteinschätzung, mit seinen Überlebensstrategien, seiner Subjektivität und Individualität gezeigt werden kann. In „Hotel Capri“ erzähle ich (unter anderem) von einer Liebe zwischen zwei jungen Männern bzw. von der Erinnerung eines alten Mannes an etwas, das vielleicht eine erste, große Liebe, vielleicht aber auch nur eine erste, angstfreie Erfahrung von Sexualität gewesen ist. Es ist eine Geschichte unter vielen anderen, die ebenso erzählenswert wären. Ich habe mich für diese entschieden.

abgedruckt in: Programmheft Residenztheater Spielzeit 2013/14