Der Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini, der Autor Thomas Jonigk und der Regisseur Christof Loy im Gespräch mit der Dramaturgin Yvonne Gebauer

Yvonne Gebauer:
Wie kam es zu der Idee für diese Oper?

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Georges Delnon hat 2006 meine erste Oper „Wut“ in Erfurt gehört und hat mich dann nach einer Zusammenarbeit gefragt. Die Suche nach einem Stoff ist nicht immer ganz einfach und hat in diesem Fall circa zwei Jahre in Anspruch genommen, bis mir plötzlich E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ in den Sinn kam. Lange kannte ich den Stoff bloss von der Offenbach-Oper her, und ich konnte mich noch gut an das einschneidende Leseerlebnis erinnern, als ich mir als Student einmal den Originaltext vornahm, der eine gänzlich andere Emotionalität aufwies, als ich mir aufgrund der Oper vorgestellt hatte: die Schwärze, das Abgründige, das alles war mir neu und hat mich sehr fasziniert.
Und deshalb habe ich, nach anfänglichem Zögern, die Herausforderung angenommen, einen bekannten und zum Teil bereits vertonten Stoff als Grundlage für meine zweite Oper zu wählen.

Christof Loy:
Da befindest du dich diesbezüglich ja in guter Gesellschaft…

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DER SANDMANN
Der Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini, der Autor Thomas Jonigk und der Regisseur Christof Loy im Gespräch mit der Dramaturgin Yvonne Gebauer

Yvonne Gebauer:
Wie kam es zu der Idee für diese Oper?

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Georges Delnon hat 2006 meine erste Oper „Wut“ in Erfurt gehört und hat mich dann nach einer Zusammenarbeit gefragt. Die Suche nach einem Stoff ist nicht immer ganz einfach und hat in diesem Fall circa zwei Jahre in Anspruch genommen, bis mir plötzlich E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ in den Sinn kam. Lange kannte ich den Stoff bloss von der Offenbach-Oper her, und ich konnte mich noch gut an das einschneidende Leseerlebnis erinnern, als ich mir als Student einmal den Originaltext vornahm, der eine gänzlich andere Emotionalität aufwies, als ich mir aufgrund der Oper vorgestellt hatte: die Schwärze, das Abgründige, das alles war mir neu und hat mich sehr fasziniert.
Und deshalb habe ich, nach anfänglichem Zögern, die Herausforderung angenommen, einen bekannten und zum Teil bereits vertonten Stoff als Grundlage für meine zweite Oper zu wählen.

Christof Loy:
Da befindest du dich diesbezüglich ja in guter Gesellschaft. Die Opern- bzw. Kompositionsgeschichte belegt, dass Stoffe oft nicht als exklusiv betrachtet, sondern von den unterschiedlichsten Komponisten vertont und bearbeitet wurden.

Yvonne Gebauer:
Und wie kam es dann zu der Zusammenarbeit mit Thomas Jonigk?

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Der Name wurde unabhängig sowohl von Dietmar Schwarz als auch von meinem Verlag, dem Bärenreiter-Verlag, genannt, der schon eine Arbeitserfahrung mit Thomas Jonigk hatte. Das ist ja schon aussergewöhnlich und hat mich sehr neugierig auf ihn gemacht. Ich kannte seinen Namen natürlich bereits, sein Stück „Täter“ stand im Theater Basel vor ein paar Jahren auf dem Spielplan.

Thomas Jonigk:
Dietmar Schwarz hat mir das Projekt dann vorgestellt, Und kurz darauf haben Andrea und ich uns getroffen, 2008 war das, um zu sehen, ob eine Zusammenarbeit auf der menschlichen bzw. inhaltlichen Ebene denkbar ist. Und haben erfreulicherweise festgestellt, dass das sehr wohl möglich ist. Das Libretto ist in einem diskursiven Klima gegenseitiger Wertschätzung und Neugierde entstanden, das keine Kompromisse erfordert hat. Und als es dann 2009 fertig war, habe ich Christof Loy für die Regie vorgeschlagen.

Christof Loy:
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon Gespräche mit Dietmar Schwarz darüber geführt, in Basel zu inszenieren. Und dann kam noch dazu, dass ich mich zeitgenössischer Musik verpflichtet fühle, bisher aber noch nie eine Uraufführung inszeniert hatte. Deshalb war mein Interesse besonders gross.

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Die Arbeit mit Thomas war ganz anders als bei meiner ersten Oper. Dort gab es viele Fassungen, und ich konnte seitenweise auch Text streichen. Bei Thomas machte es dann eines Tages einfach `plopp` in meinem Mail-Briefkasten und das Stück war da. Ich erinnere mich noch genau an das Herzklopfen und die Freude, als ich es las. Hoffmanns „Sandmann“ ist ja eine komplizierte Konstruktion. Es ist ein Briefroman, und es gibt Zeitsprünge zurück in die Kindheit. Dies in einem Libretto „zu lösen“ ist alles andere als einfach.

Christof Loy:

Dafür ist das Medium „Theater“ andererseits sehr gut geeignet. Es beschreibt, im Unterschied zum Film, der grundsätzlich subjektiver, z.B. aus der Perspektive der Figur des Nathanael erzählen kann, stets ein komplexes System bzw. einen repräsentativen Ausschnitt, der auf den Rest der Welt verweist. In diesem Rahmen können sämtliche Figuren und Zeitebenen gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Thomas Jonigk:

Meine Bedingung für das Schreiben des Librettos war, keine Nacherzählung des Stoffes erstellen zu müssen, sondern eine eigene Version frei nach Motiven von E.T.A. Hoffmann zu schaffen. Naturgemäss steht hier die Hauptfigur Nathanael im Zentrum, deren Konflikt zeitlos ist. Er ist traumatisiert und trägt die Ängste und prägenden Erlebnisse seiner Kindheit bis in die letzte Faser seines gegenwärtigen Lebens hinein als einen Teufelskreis von Angst, Schuld und negativer Selbstbestätigung – ähnlich hat es auch Freud in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ beschrieben. Hier galt es für mich anzusetzen. Weniger interessant waren für mich Motive wie Alchemie oder Wetterglashandel, die zeitgebunden sind und den Stoff in nostalgische Ferne rücken. Die Figur der Olimpia, die bei mir „Clarissa“ heisst, wird bei E.T.A. Hoffmann von Nathanael schockhaft als Automat wahrgenommen, während sich das bei mir insofern verändert als die Erkenntnis, dass es sich bei dieser Frau um eine künstliche Existenz handelt, sehr begrüsst und als erleichternder Fortschritt empfunden wird. Da haben mich Filme wie „Vertigo“ (1958) von Alfred Hitchcock und „The Stepford Wives“ (1974) von Bryan Forbes sehr inspiriert. In ersterem schafft der (den Gott ersetzende) Mann eine Frau nach seinem Bild – und scheitert. Im zweiten sind die Männer bereits zu Göttern der bürgerlichen Welt geworden und kreieren erfolgreich Frauenroboter, die ihre komplizierten, denkenden, sexuell unwilligen Originale ersetzen und übertreffen. Und so bestellt auch Nathanael seine geliebte Clara in Serie, als er feststellt, dass seine reale Partnerin ihm nicht selbstlos genug zu Diensten ist.

Christof Loy:

Die Grenze zwischen Science-Fiction und gesellschaftlicher Realität ist da fliessend: Auf der Strasse sind massenhaft junge Frauen zu sehen, die alle dieselben Highheels, dieselbe Frisur und Kleidung haben und das identische, reduzierte Vokabular benutzen. Von den jungen Männern ganz zu schweigen: Da wird für mich Alltag zum Alptraum.

Thomas Jonigk:

Was die Figur der Hoffmannschen Clara betrifft, so wird sie in der Literaturwissenschaft oftmals als bieder und blass beschrieben bzw. als unfähig, den komplexen Bedürfnissen Nathanaels gerecht zu werden. Das ist natürlich chauvinistisch. Meiner Meinung nach ist sie eine sehr klare unbestechliche und emanzipierte Frauenfigur. Eine moderne Existenz, die ihren eigenen Standpunkt vertritt und sich nicht in die Welt Nathanaels hineinmanipulieren lässt, der versucht, ein Buch bzw. einen Roman zu schreiben. Daran scheitert er. Das ist die äussere Handlungsebene. Auf der phantasmagorischen, inneren Ebene gibt es ein weiteres Buch, das ich das „Buch des Schicksals“ nennen würde. Dieses ist in den Händen von Nathanaels Vater und von Coppelius, die als Tote erscheinen und die Lebendigkeit des Traumas repräsentieren. Auf dieser Ebene phantasiert sich Nathanael in eine erfolgreiche Existenz als Schriftsteller hinein – und dort hat die reale Clara naturgemäss keinen Platz.

Yvonne Gebauer:

Wie unterscheidet sich für einen Regisseur die Arbeit an einer Uraufführung zu der Arbeit an einem Repertoirestück?

Christof Loy:
Für mich ist dieser Prozess etwas ganz Neues. Normalerweise trage ich die Stücke, die ich inszeniere, schon jahrelang mit mir herum, und daraus entwickelt sich dann die Arbeit bzw. meine szenische und figurenspezifische Fantasie. Hier hatten wir aber zu dem Zeitpunkt, als wir das Bühnenbild und die Kostüme abgeben mussten, noch keine einzige Note gehört. Was ich auch lerne, ist, dass man dem Autor und dem Komponisten nicht immer in dem, was sie behaupten und sagen, so ganz nachgehen darf. Zum Beispiel habe ich Andrea einmal nach den Figuren Coppelius und dem Vater gefragt und ihm erzählt, dass wir die beiden wie Clowns sehen. Und da ist er sehr vehement geworden und sagte: „Nein! Nein! Nein! Die sind böse!“ Und da habe ich gemerkt, dass er zu diesem Zeitpunkt vollständig bei Nathanael war und ganz ungefiltert aus der Sicht Nathanaels beschrieben hat, der diese Figuren natürlich als bedrohlich empfinden muss.

Yvonne Gebauer:
Man kommt bei der Massivität des Stückes nicht umhin, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es die Welt dunkel und fatalistisch beschreibt. Wie seht ihr das?

Christof Loy:
Wir sind jeden Tag bei der Probe mit diesen Fragen beschäftigt. Andrea hat eine Musik komponiert, die sehr viel Kraft verlangt, so dass der Zuschauer sich am Ende möglicherweise in einer Art Erschöpfungszustand befinden wird. Aber neben dieser Dunkelheit, gibt es auch immer wieder sehr starke Momente von Glück und Hoffnung, die mich als Regisseur besonders interessieren.

Thomas Jonigk:
Ich habe beim Schreiben des Librettos gar nicht darüber nachgedacht, ob das ein pessimistisches oder fatalistisches Stück ist. Das ist für mich nicht die Frage. In jedem Fall kann es nicht Aufgabe des Theaters sein zu beruhigen. Für mich ist sehr wichtig gewesen, über den Fall des Nathanael und seines Traumas hinaus eine Welt zu beschreiben, die ohne Gott auskommen muss, in der versucht wird, alles zu rationalisieren, zu erklären oder funktionsfähig zu halten. Dass aber jenseits dessen immer ein Rest von Unerklärbarkeit, Schicksalhaftigkeit, Unentwirrbarkeit und Geheimnis zurückbleibt. Und obwohl es keinen über allem waltenden Gott gibt, ist an diese Stelle etwas anderes getreten, man kann es Schicksal nennen. Oder Dämonen. Und dem gegenüber steht der überforderte Mensch.

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Man muss nur an die Filme von David Lynch oder David Cronenberg denken – da findet man vergleichbare Kosmen.

Thomas Jonigk:
In diesem Punkt kann das Theater, das leider immer öfter zur blossen Abbildung von alltäglicher, mythologiefreier Realität missbraucht wird, vom Film lernen. „Der Sandmann“ ist eben auch kein Stück, das als eine direkte Abbildung von Wirklichkeit zu verstehen ist, sondern vielmehr als Form und Klang gewordene Innenwelt. Ein Alptraum-, aber eben auch ein Möglichkeitsraum.

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Ich stelle mir das wie eine Art Katharsis vor. Dass das Publikum durch die verschiedenen Affekte geführt wird, dass es mitleben und mitleiden kann. Aber was an diesem Abend auch wichtig ist, das ist die Ironie, der Humor, die Groteske. Und die schafft Distanz zum Heulen und Zähneklappern. Es gibt immer wieder die Möglichkeit, aus Nathanaels Emotionalität herauszutreten.

Christof Loy:
Das hat mit dem Zustand der beiden Alten, also dem Vater und Coppelius, zu tun, die ja tot sind, und deswegen nicht mehr an die beschwerlichen Gefühlswelten der Menschen gebunden sind. Sie sind wie losgelöst und bewegen sich zynisch kommentierend an der Oberfläche der Geschehnisse. Sie können sehr leicht und witzig sein, weil menschliche Gebundenheit sie nicht mehr berührt. Das bringt Witz und Humor in den Abend.

Thomas Jonigk:
Ja, die lebenden Toten im „Sandmann“ haben mich auch immer zum Lachen gebracht, so ähnlich wie Waldorf und Statler, die beiden Alten aus der Muppet Show.

Andrea Lorenzo Scartazzini:
Und selbst Nathanael ist nicht nur ein Leidender. Als er sich als Schriftsteller-Star imaginiert, kriegt er etwas Salbungsvoll-Grandioses. Und beim Flirt mit Clarissa macht er sich zum Clown…