Thomas Jonigk: Silvia, du hast seit 1994 von Frankfurt über Wien bis Basel und nun Zürich in beinahe allen meiner Stücke gespielt. „Weiter träumen“ habe ich speziell für dich geschrieben. Nicht nur weil du eine herausragende Schauspielerin bist, auch weil wir uns privat intensiv über die Bedeutung des älter Werdens –speziell für eine Frau – unterhalten haben. Und diese Gespräche wurden meine Inspiration für „Weiter träumen“. Du gibst eine Figur, die Silvia heisst, und natürlich dennoch Fiktion ist. Ist das etwas anderes, als wenn du z.B. eine Figur von Ibsen spielst?

Silvia Fenz: Schon. Es ist fast wie eine Therapie, weil du etwas geschrieben hast, das ich nicht erwartet habe und mir doch vertraut ist. Manchmal bin ich fix und fertig, weil die Arbeit an der Figur Erinnerungen in mir …

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Silvia Fenz, Christof Loy und Thomas Jonigk im Gespräch über „Weiter träumen“

Thomas Jonigk: Silvia, du hast seit 1994 von Frankfurt über Wien bis Basel und nun Zürich in beinahe allen meiner Stücke gespielt. „Weiter träumen“ habe ich speziell für dich geschrieben. Nicht nur weil du eine herausragende Schauspielerin bist, auch weil wir uns privat intensiv über die Bedeutung des älter Werdens –speziell für eine Frau – unterhalten haben. Und diese Gespräche wurden meine Inspiration für „Weiter träumen“. Du gibst eine Figur, die Silvia heisst, und natürlich dennoch Fiktion ist. Ist das etwas anderes, als wenn du z.B. eine Figur von Ibsen spielst?

Silvia Fenz: Schon. Es ist fast wie eine Therapie, weil du etwas geschrieben hast, das ich nicht erwartet habe und mir doch vertraut ist. Manchmal bin ich fix und fertig, weil die Arbeit an der Figur Erinnerungen in mir hochholt. Was mich dann als Schauspielerin verunsichert, weil ich mit meinem Nichtwissen über mich und wie man mich sieht konfrontiert bin. Und damit, wie ich geworden bin. Da kommen mir dann manchmal die Tränen, weil das Weiterträumen mich nie wirklich verlassen hat. Und da die meisten Begebenheiten in dem Stück erdacht sind, sind die Erinnerungen nicht biografischer, sondern emotionaler Natur: Aber die evozieren dann Bilder von früher, die sich auf mein gelebtes Leben beziehen und mir eine Rückschau auf mich ermöglichen.

Christof Loy: Für mich als Regisseur ist es hilfreich, dass ich die Biografie meiner Darstellerin weniger lang und intensiv kenne und mich viel vorbehaltloser mit der Figur Silvia beschäftigen kann. Ich bewege mich auf neutralerem Boden und stelle mir von dort aus vor, wie die Figur Silvia ist und sich verhält, ohne dass ich damit in Konflikte gerate.

Silvia Fenz: Das ist auch für mich sehr gut. In mir vermischen sich ohnehin sämtliche Geschichten, ich blicke von aussen auf mich und habe das Gefühl zu träumen: Wie bin ich? Wie soll ich da dran gehen? Zudem erlebe ich viele Verluste sehr verdeutlicht, z. B. das Tanzen. Mein Körper ist älter geworden, und wenn ich über das Thema Erotik nachdenke, spüre ich – wie es im Stück ja auch gesagt wird – die Sehnsucht danach, einfach in Ruhe alt und weise sein zu dürfen, ohne über Alterssex nachdenken zu müssen. Aber das Stück verlangt auch eine andere Sehnsucht. Und Silvia muss herausfinden, wonach sie sich sehnt.

Thomas Jonigk: In unserer Gesellschaft darf man nur alt sein, wenn man im Alter möglichst jung ist. Dabei werden die Schwierigkeiten des Alters wie körperliche Gebrechen, soziale Ausgrenzung etc. verleugnet: Vor allem Frauen fallen ja aus den Bereichen Erotik und Flirt komplett heraus. Die daraus resultierenden Liberalisierungsversuche haben aber leider etwas zwanghaftes: Die ältere Frau darf bzw. muss jetzt vital, sportlich, sorglos, faltenfrei und sexuell aktiv sein, und es entsteht neuer Druck. Es wird immer weniger gestattet, dem Körper Entspannung zu schenken oder seinen Radius zu verkleinern. Die Verbindung von Alter mit geistiger Reife findet schon gar nicht mehr statt. Es geht um den Körper.

Christof Loy: Dennoch finde ich interessant, dass Silvia in dem Stück die Sehnsucht hat jemandem wie dem deutlich jüngeren Hans eine gleichwertige Partnerin sein zu wollen – und zwar auch in sexueller Hinsicht.

Silvia Fenz: Ich kann mich nie entscheiden, ob Silvia rückwirkend träumt oder ob die Begegnung tatsächlich stattfindet. Vielleicht ist Hans eine Erinnerung. Die Probenarbeit macht mir sehr bewusst, dass ich mit einer unheimlich reichen Vergangenheit beschenkt bin. Ich habe sehr viele Erfahrungen gemacht und dennoch meine Naivität nicht eingebüsst. Es gibt noch dieses Mädchen in mir, das ich nicht mehr bin. Ich bin da, wo ich jetzt bin. Und die Sehnsucht bleibt: nach Wiederkehr, nach Neuem, nach Unmöglichem.

Thomas Jonigk: Das Träumen hat als Motiv eben sehr viel mit dir zu tun. Nicht im Sinne von Freud, der den „Königsweg zum Unbewussten“ mit verdrängten sexuellen Wünschen, Inzestgelüsten oder Elternmordgedanken befrachtet hat. Auch nicht als Nervengewitter im Kopf, wie viele Neurowissenschaftler das heute annehmen. Träumen in meinem Stück ist eine Art kreativen Denkens, in dessen Rahmen wir uns nicht zensieren, und das eng mit der Realität verwoben ist: als Erinnerung oder als potentielle Wirklichkeit.

Silvia Fenz: Das Träumen hat mir geholfen, neugierig zu bleiben. Nicht sauer auf die junge Generation zu sein. Ich habe auch als Schauspielerin das Gefühl, gerade erst anzufangen. Je älter ich werde, desto weniger weiss ich, wo ich hindenken soll. Jedenfalls nicht nur ans Sterben oder das Totsein. Ich habe meine Mutter mal gefragt, was sie in Bezug auf das älterwerden positiv benennen würde. Aber sie hat mich nur entgeistert angeschaut , weil ihr nichts eingefallen ist.

Christof Loy: Vereinfacht würde ich sagen: Der Vorteil alt zu werden ist, nicht mehr jung sein zu müssen. Die schlimmsten Erfahrungen habe ich als junger Mensch gemacht, weil ich noch nicht wusste, was für mich gut ist, was mir entspricht. Natürlich bin ich auch heute nicht vor negativen Erfahrungen sicher: Aber ich erkenne sie schneller und vermeide damit Umwege.

Silvia Fenz: Ein gewisser Stress fällt weg: Ich habe ein Recht darauf, nicht mehr faltenlos zu sein. Ich. Obwohl ich dann wieder Tage habe, an denen ich mir sage: Mein Gott, wie schaue ich aus. Aber es ist kein Konkurrenzdenken mehr da. Und das transportieren Stück und Inszenierung für mich sehr schön: Ich möchte nichts von Frauen erzählen, die sich am Bett von Karl Bockmann einen Zickenkrieg liefern.

Thomas Jonigk: Ich habe das Stück mit Blick auf das Publikum im Pfauen geschrieben, das sich zu einem grossen Teil aus älteren Frauen zusammensetzt, für die ich grundsätzlich Zuneigung und Respekt empfinde, die ihre murrenden Männer ins Theater mitschleifen, die von selbst nie hingehen würden. Oder diese Frauen kommen allein. Sie scheinen interessierter und neugieriger als Männer. Und sinnlich verführbarer. Ich möchte, dass es für diese Frauen eine Identifikationsfigur auf der Bühne gibt. In dem Sinne ist „Weiter träumen“ ein Stück für Frauen.

Christof Loy: Ich glaube, dass Frauen insgesamt emotional durchlässiger sind als Männer, die oft noch im Jäger- und Sammlersein verhaftet sind. Und für einen Mann als Teil des Theaterpublikums ist es vermutlich schwer, nicht in die präsentierten Abläufe eingreifen zu dürfen, passiv sein zu müssen, zuzuschauen und zuzulassen. Und schlimmstenfalls emotional ergriffen zu sein.

Thomas Jonigk: Ich glaube, dass es für Männer, auch wenn das eine Pauschalisierung ist, grundsätzlich schwieriger ist, sich für jemanden außer sich selbst zu interessieren. Das ist natürlich auch auf der Beziehungsebene ein Problem. „Weiter träumen“ präsentiert die Zweierbeziehung als ein lebbares Ideal, obwohl die Realität mit anwachsenden Scheidungszahlen und Betrugsraten dagegen spricht. Ebenso eine anwachsende Individualisierung, in deren Rahmen man gleichzeitig flexibel, mobil, offen, entwicklungs-, lern- und leistungsfähig, dabei frei und unverwechselbar sein soll. Diese Individualisierung, die anfangs romantische Sehnsucht erzeugte, scheint direkt in eine postromantische Welt zu führen, in der das Gegenüber keine Ergänzung mehr ist, sondern wo im Du nur noch das Ich gesucht und nicht gefunden wird. Mich interessiert die Frage, ob die Sehnsüchte von Hans und Silvia nach einer Liebesbeziehung eine reale Chance haben.

Christof Loy: Mit Hans und Silvia begegnen sich zwei Figuren, die aus der allgemeinen Konkurrenz herausgefallen sind. Sie aufgrund ihres Alters, er, weil er Selbstmordversuche hinter sich hat, von ängsten gezeichnet ist und viele Charakteristika des „Unmännlichen“, des Losers an sich trägt. Er hat, wenn auch zum Teil auf schmerzhafte Weise, viele Rollenmuster hinter sich gelassen. Diese jeweiligen Lebenssituationen haben das Potential zur Befreiung. Beide haben nichts zu verlieren. Und diese Freiheit kann sehr kreativ sein. Da begegnen sich zwei Menschen, die aufgrund verschiedener Erfahrungen und Konditionierungen ähnlich offen sind.

Thomas Jonigk: Alter wäre in dem Zusammenhang eine utopische Kraft. Mir ist noch Mal klar geworden, dass das Theater, abgesehen davon, dass es ein Hort für Außenseiter ist, diese Ort gewordene Utopie ist: Hier begegnen sich Generationen: junge und alte Schauspieler, Assistenten, Regisseure oder Zuschauer. Das ist großartig und für eine wirkliche kreative Befruchtung absolut notwendig. Darüber hinaus fehlen mir diese Begegnungsorte. Wo sind die?

Silvia Fenz: Dieser Beruf ist grossartig, weil du alt sein darfst. Das Altsein wird ebenso benötigt wie die Jugend. Nur das mit dem Textlernen ist ein Problem… Christof Loy: Hoffentlich sind die Zeiten am Theater wieder vorbei, in denen man dachte, man müsse Marthe Schwerdtlein unbedingt mit einem 20jährigen Anfängerin besetzen. Durch die Aussparung des Alters auf der Bühne beraubt man sich so viel Sinnlichkeit und Tiefe zugunsten eines manchmal eher vordergründigen Sexappeals.

Silvia Fenz: Die überbewertung der Sexualität in unserer Gesellschaft. Dieser Zwang immer sexy sein zu müssen hat sicher damit zu tun, dass Sexualität mit Liebe verwechselt wird. Da gibt es dieses schöne Zitat von Montaigne, in dem er sagt, dass die Liebe ein Ziel ist, das immer entweicht: „Wenn die Herzen sich finden, verliert sie an Feuer und Kraft. Ihre Erfüllung ist ihr Ende, denn das Ziel, das nun erreicht ist, ist ein körperliches und das zieht die Gefahr der übersättigung herauf.“

Thomas Jonigk: Oder Schopenhauer: “Alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch immer gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstrieb.“ Diese Verwechslung hängt, meiner Meinung nach, mit dem Verlust der Metaphysik zusammen. Man hat eine übergeordnete Kategorie verloren – die Liebe zu Gott, sagen wir mal – und alles was bleibt, ist die Liebe zu sich selbst und das ist dann der Körper, der für Jugend, Primärreiz und Sexualität steht. Und das Selbstbild dominiert. In meinem Stück „Diesseits“ sagt eine Figur: „Gott ist in die Geschlechtsteile gerutscht.“

Christof Loy: Und warum fragt Silvia Hans: “Willst du mit mir schlafen?“

Silvia Fenz: Einerseits hofft sie, dass er nicht will, weil es ihr weniger um Sexualität als um Zärtlichkeit geht. Sie sucht Nähe. Andererseits wäre sie zu Tode gekränkt, wenn er „Nein“ sagen würde, weil das die Ansicht ihres Ehemanns Karl Bockmann bestätigen würde, dass sie zu alt ist, um Begehren in jemand auszulösen. Sie will gemeint sein: Der Traumsatz ist “Willst du mich heiraten?“ Und die reale Erleichterung ist “Nein.“ Sie will nicht in die Wiederholung gehen. Mit Hans müsste es eine eigene, individuellere Form des Zusammenseins sein.

Christof Loy: Diese Bannung des Metaphysischen aus dem Theater ist fatal. Es erschwert das Benennen der grossen Themen wie Liebe, Mut, überzeugung, Glauben, Treue. Stattdessen grassiert viel zu oft Zynismus.

Silvia Fenz: Sogar Romantik wird mittlerweile belächelt. Dabei gibt es nichts schöneres als an einen geliebten Menschen zu denken und Blumen zu pflücken.

Thomas Jonigk: Würdest du das gerne auf der Bühne tun?
Silvia Fenz: Unbedingt. Als alternde Ophelia.

Erstabdruck: Programmheft Schauspielhaus Zürich Nr. 5, Saison 2011/12