Die Regisseurin Daniela Löffner und der Autor Thomas Jonigk im Gespräch mit der Dramaturgin Katja Hagedorn

Katja Hagedorn – Sexueller Missbrauch ist ein schwieriges Thema, die Beschäftigung damit ist verstörend und schmerzhaft. Thomas, warum hast du dich entschieden, ein Stück über Kindesmissbrauch zu schreiben?

Thomas Jonigk – Ich habe Ende der 90er-Jahre an „Täter“ gearbeitet. Damals begannen die Medien langsam, sich des Themas anzunehmen. Dabei kam es zu einer sehr misslichen Art der Opferdarstellung, die mich aggressiv gemacht hat. Zum Beispiel kursierte – heute zum Teil auch noch – die Rede vom „unschuldigen Opfer“. Das ist widersinnig, denn der Ausdruck impliziert, dass es auch schuldige Opfer geben kann. Die Verantwortung für den sexuellen Missbrauch liegt aber in jedem Fall beim Täter. Ausserdem wurden in den Medien Opfer dargestellt, die nicht der Realität entsprachen. In der Regel sah man ein sechsjähriges, blond gelocktes Mädchen, das irgendwo sass und mit seiner Puppe spielte. Andere Gruppen, die auch regelmässig Opfer sexueller übergriffe werden, …

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TÄTER – DAS THEMA HAT ETWAS SEHR PROVOZIERENDES

Die Regisseurin Daniela Löffner und der Autor Thomas Jonigk im Gespräch mit der Dramaturgin Katja Hagedorn

Katja Hagedorn – Sexueller Missbrauch ist ein schwieriges Thema, die Beschäftigung damit ist verstörend und schmerzhaft. Thomas, warum hast du dich entschieden, ein Stück über Kindesmissbrauch zu schreiben?

Thomas Jonigk – Ich habe Ende der 90er-Jahre an „Täter“ gearbeitet. Damals begannen die Medien langsam, sich des Themas anzunehmen. Dabei kam es zu einer sehr misslichen Art der Opferdarstellung, die mich aggressiv gemacht hat. Zum Beispiel kursierte – heute zum Teil auch noch – die Rede vom „unschuldigen Opfer“. Das ist widersinnig, denn der Ausdruck impliziert, dass es auch schuldige Opfer geben kann. Die Verantwortung für den sexuellen Missbrauch liegt aber in jedem Fall beim Täter. Ausserdem wurden in den Medien Opfer dargestellt, die nicht der Realität entsprachen. In der Regel sah man ein sechsjähriges, blond gelocktes Mädchen, das irgendwo sass und mit seiner Puppe spielte. Andere Gruppen, die auch regelmässig Opfer sexueller übergriffe werden, wurden nicht thematisiert. Männliche Kinder wurden nicht gezeigt, ausländische auch nicht. Es wurde nicht darüber gesprochen, dass auch Säuglinge missbraucht werden. Von erwachsenen Menschen, für die der Missbrauch schon länger zurückliegt, die aber schwer mit den Folgen zu kämpfen haben, war auch nicht die Rede. Es schien, als müsste man übermenschlich rein und gut sein, um den Opferstatus für sich reklamieren zu dürfen. Das hat mich wütend gemacht und diese Wut hat zur Beschäftigung mit dem Thema geführt: einmal auf dem Theater, in „Täter“, und einmal in meinem Roman „Jupiter“.

Katja Hagedorn – Weisst du noch, warum sexueller Missbrauch Ende der 90er Jahre überhaupt ins Bewusstsein der öffentlichkeit rückte?

Thomas Jonigk – Das hatte unter anderem mit den Geschehnissen um Marc Dutroux in Belgien zu tun, der in den 80er und 90er Jahren mehrere Kinder und Jugendlicheentführt und vergewaltigt hatte, auch zu pornographischen Zwecken. In der Schweiz gab es auch einen Fall von Kinderpornographie, der Schlagzeilen machte. Dadurch kam viel ins Rollen. Gleichzeitig entstand die Gefahr, dass man sexuellen Missbrauch als ausserfamiliäres Phänomen betrachtete. Ich recherchiere sehr viel und lange, bevor ich zu schreiben beginne, das war bei „Täter“ auch so. Besonders ein Buch war wichtig für mich: „Komm, mein liebes Rotkäppchen … Kindesmissbrauch – Wer sind die Täter?“ von Karin Jäckel. Sie machte darauf aufmerksam, dass Fremdtäter, also zum Beispiel Menschen, die ein Kind per Anhalter mitnehmen, entführen und vergewaltigen, die Ausnahme sind. Sexueller Missbrauch findet fast immer im vertrauten Bereich statt: in der Familie, im Kindergarten, in der Schule oder im Sportverein. Karin Jäckel hat auch darauf hingewiesen, dass sexueller Missbrauch nicht zwangsläufig von Männern begangen wird. Es gibt auch Frauen, die ihre Kinder missbrauchen, und es gibt auch Frauen, die wegschauen, wenn ihr Mann es tut oder ihn beim Missbrauch aktiv unterstützen. Das Thema der Täterinnen- und Mittäterinnenschaft wurde in den 90er Jahren gar nicht bearbeitet. Darum ist es in meinem Stück mit zwei Täterinnen, Magda und der ärztin, und Karin, einer Mittäterin, sehr präsent.

Katja Hagedorn – War die Darstellung des Themas in den Medien auch für dich ein Grund, „Täter“ zu inszenieren, Daniela?

Daniela Löffner – Natürlich ist das Thema in den letzten Jahren in den Medien sehr präsent gewesen, unter anderem durch die vielen Fälle in der katholischen Kirche und die Missbräuche in der Odenwaldschule. Aber als wir uns für das Stück entschieden haben, war das Medieninteresse gerade wieder etwas abgeflaut. Für mich hat nicht so sehr Wut auf die Medien den Ausschlag gegeben. Die Thematik hat mich als solche provoziert. Ich habe gemerkt, dass sie mich verunsichert und verstört und das ist immer eine gute Voraussetzung, um sich an einem Thema abzuarbeiten.

Katja Hagedorn – Was genau war provozierend?

Daniela Löffner – Das Stück beschäftigt sich, wie der Titel schon sagt, auch mit den Tätern. Opfer und Täter kommen gleichermassen zu Wort, das hat etwas sehr Provozierendes. Thomas hätte auch ein Stück schreiben können, das sich auf die Perspektive der Opfer, auf ihr Leid und ihre Schmerzen, konzentriert. Das wäre sicher auf eine andere Art verstörend. Aber in diesem Stück muss ich mich mit beiden Seiten auseinandersetzen und damit, wie sie zusammenhängen.

Katja Hagedorn – Als die Entscheidung für „Täter“ gefallen war, haben wir versucht, uns dem Thema anzunähern. Wir haben Bücher über sexuellen Missbrauch gelesen, Filme und Interviews angesehen und mit Menschen gesprochen, die als Psychologen oder Anwälte beruflich mit Opfern und Tätern zu tun haben. Kannst du dich noch daran erinnern, was dich in dieser Zeit am meisten beschäftigt hat?

Daniela Löffner – Mich haben sehr viele unterschiedliche Dinge beschäftigt. Ich hatte keinen Begriff davon, was sich psychologisch zwischen einem Opfer und einem Täter abspielen kann. Man darf hier sicherlich nicht verallgemeinern, weil jeder Missbrauch seine eigene Geschichte hat. Aber mir fiel auf, wie kompliziert die Beziehung zwischen Opfer und Täter zum Beispiel bei Missbräuchen innerhalb der Familie werden kann. Von aussen stellt man sich die Verhältnisse relativ klar vor: Es gibt einen Angriff in Form eines sexuellen übergriffs durch den Täter und ein Opfer, das sich körperlich nicht wehren kann, den Missbrauch darum dulden muss und den Täter dafür hasst. Dieser Anteil ist in einer Täter-Opfer-Beziehung sicher auch vorhanden. Aber ein Kind liebt seine Eltern auch und wird sie unter Umständen weiter lieben, selbst wenn die Eltern das Kind über jede Schmerzgrenze hinaus verletzen. Ein Kind ist darauf angewiesen, seine Mutter und seinen Vater zu lieben, weil es ein menschliches Grundbedürfnis nach Liebe und Vertrauen hat. Dieses Bedürfnis wird neben dem Körper des Kindes auch missbraucht und vom Täter sogar dahingehend verdreht, dass das Kind einverstanden sei oder zum Missbrauch auffordere. Das Kind ist aber nicht einverstanden und fordert nicht auf. Es ist gezwungen, die übergriffe zu dulden, weil es die Liebe und Zuneigung der Eltern braucht. Opfer und Täter sind in manchen Fällen sehr eng aneinander gebunden. Dadurch wird verständlich, warum so viele Opfer den Täter durch ihr Schweigen schützen. Gleichzeitig entstehen genau dadurch Schuldgefühle: Das Opfer wirft sich vor, dass es sich nicht gewehrt und nicht über den Missbrauch gesprochen hat. Ich habe erst durch die Vorbereitung auf das Stück begriffen, dass dieser psychische Missbrauch genauso grosse Schmerzen verursacht wie der körperliche.

Thomas Jonigk – Viele Opfer beschreiben auch, dass der Missbrauch für sie ein Teil ihres Alltags war und auf eine schreckliche Art als Normalität empfunden wurde. Das Opfer kann die Frage nach Recht oder Unrecht zum Zeitpunkt des Missbrauchs vielleicht noch gar nicht stellen, sondern erst später, wenn es die Vorfälle als monströs erkennt und mit dem Wort Missbrauch benennen kann.

Katja Hagedorn – Mich haben in der Vorbereitungsphase die hohen Zahlen sehr beschäftigt. Man geht davon aus, dass in Westeuropa jede dritte bis fünfte Frau und jeder sechste bis zehnte Mann sexuelle übergriff ein der Kindheit erlebt hat. Dabei sind die Täter laut Statistik in allen gesellschaftlichen Schichten gleichermassen vertreten. Sexueller Missbrauch durchzieht unsere Gesellschaft und ist kein Ausnahmephänomen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich das inzwischen zwar rational erfasst, kann es mir aber noch immer nicht vorstellen. Natascha Kampusch hat das in ihrem Buch „3096 Tage“ sehr gut auf den Punkt gebracht, wenn sie schreibt, dass wir Ausnahmetäter wie Wolfgang Priklopil brauchen, um dem Grauen, das unter uns wohnt, ein Gesicht zu geben und es abzuspalten. Sie schreibt, dass wir die Bilder von Kellerverliesen benötigen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spiessiges und bürgerliches Antlitz zeigt.

Daniela Löffner – Wenn wir die Täter zu Monstern machen, die am Rande der Gesellschaft leben, perverse Vorlieben haben und auch noch grauenhaft aussehen, haben sie nichts mit uns zu tun und das beruhigt uns. Aber ich fürchte, so machen wir es uns zu einfach. Ich glaube, dass es in jedem Menschen einen monströsen Anteil gibt. Und ich halte es für wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wozu Menschen fähig sind. Dann entsteht die Chance, dass eine Gesellschaft im Nachdenken über sich selbst eine Art selbstreinigenden Prozess einleitet. Das findet bei diesem Thema noch viel zu wenig statt. Mich hat in der Vorbereitung nicht nur die Thematik erschüttert, sondern auch die Reaktionen anderer Menschen. Ich habe „Täter“ viel in der öffentlichkeit vorbereitet: im Café, im Zug oder im Waschsalon. Da hatte ich das Stück oder Literatur zum Thema dabei. Die Leute haben mich komisch angeschaut und sich von mir weggesetzt. Ein paar Mal wurde ich gefragt, was ich denn da mache, in einem ganz scharfen Ton. Man hat registriert, dass ich mich mit diesem Thema beschäftige und das ist auf extreme Abwehr gestossen. Wenn ich mit einem Buch über Atomkatastrophen im Zug sässe, würde daran niemand Anstoss nehmen. Ich habe über diese Erlebnisse eine Ahnung von der Wucht des Tabus bekommen und begriffen, dass man sich mit diesem Thema wirklich in der dunkelsten Ecke des europäischen Kulturkreises bewegt.

Thomas Jonigk – Mit dem Bild vom monströsen Täter geht übrigens wieder ein bestimmtes Opferbild einher: das Bild des zugerichteten, gebrochenen Opfers, das über das erlebte Leid wahnsinnig wird. Solche Darstellungen sprechen dem Opfer die Möglichkeit und die Kraft ab, über das Erlebte zu reflektieren und es zu verarbeiten. Ein kraftvolles Opfer passt nicht in das allgemeine Bedürfnis nach Gebrochenheit.

Daniela Löffner – Das konnte man auch an Natascha Kampusch und den Reaktionen, die sie ausgelöst hat, beobachten. Die Menschen haben ihr übelgenommen, dass sie eine Kraft hat, die man einem Opfer nicht zugesteht. Ich glaube, wenn sie nach der Befreiung in der geschlossenen Psychiatrie gelandet wäre, hätte sie Blumensträusse statt hasserfüllte Briefe bekommen.

Thomas Jonigk – Man hat ihr auch übelgenommen, dass sie nicht aufgehört hat, über das Geschehene zu reden. Es gibt ein schönes Nietzsche-Zitat: „Nur nicht zu lange krank sein. Das langweilt.“ Das ist beim Reden über sexuellen Missbrauch auch so. Ich würde sagen: Es langweilt nicht nur, es belästigt sogar. Die Opfer sind auch deswegen unbeliebt, weil sie immer auf die Wunde aufmerksam machen und die Frage nach der Verantwortung in den Raum stellen, ob sie wollen oder nicht. Das hält keiner lange aus. Innerhalb der Gesellschaft grassiert die Forderung, das Opfer möge schnell über das Erlebte hinwegkommen und bitte nicht zu viel darüber reden.

Katja Hagedorn – Man will auch nicht zu viel vom Opfer hören, weil ein Opferschicksal Ohnmachtsgefühle auslöst. In der Vorbereitungszeit habe ich eine Psychologin zum Thema befragt und mich irgendwann auch nach den psychischen Folgen eines sexuellen Missbrauchs erkundigt. Sie hat geantwortet, sie sei froh, dass ich endlich nach den Opfern frage. Das Interesse an den Abgründen auf der Täterseite sei in der Regel viel grösser als das Interesse an den Verletzungen der Opfer – ihren ängsten und ihrem Selbsthass. Die öffentlichkeit beschäftige sich viel lieber mit den Tätern als mit den Opfern, um die Ohnmachtsgefühle nicht aushalten zu müssen.

Daniela Löffner – Ich würde behaupten, dass es ein grosses voyeuristisches Interesse der öffentlichkeit gibt, die Täter zu betrachten. Aber wirklich zuhören will ihnen niemand. Keiner will sich wirklich damit beschäftigen, was in so einem Menschen vorgeht und was ihn zu einer solchen Tat treibt. Die Mehrzahl der Psychologen lehnt es ab, mit einem Menschen zu arbeiten, der ein Kind missbraucht oder missbraucht hat. Ich finde das fatal. Karin Jäckel beschreibt in ihrem Buch den Fall, dass sie einen Vortrag über Täter hält und eine Frau danach zu ihr kommt und sagt: „Ich missbrauche mein Kind.“ Diese Frau hat diesen Schritt wahrscheinlich nur getan, weil Karin Jäckel differenziert über die Täterseite gesprochen und unter anderem darauf aufmerksam gemacht hat, dass viele Täter in ihrer Kindheit selbst missbraucht wurden. Das traf auf diese Frau zu. Man müsste viel mehr Angebote und Beratungsstellen in dieser Richtung schaffen.

Thomas Jonigk – Diese Art von Prävention macht aber nur Sinn, wenn der Täter wirklich Verantwortung übernehmen will. Man sollte diese Taten nicht damit entschuldigen, dass der Täter in der Kindheit selbst schwer traumatisiert wurde. Man muss Verantwortung für sein Tun übernehmen.

Daniela Löffner – Das finde ich auch. Aber viele Täter waren als Kinder Opfer. Das wollen sich manche Menschen nicht klarmachen, weil es wieder nicht ins Bild vom monströsen Täter passt.

Katja Hagedorn – Ich glaube auch, dass mehr für die Prävention getan werden müsste. An der Charité in Berlin gibt es zum Beispiel ein Projekt, bei dem man sich melden kann, wenn man ein Kind missbraucht oder befürchtet, es bald zu tun. Das ist aber weltweit einzigartig.

Daniela Löffner– Das ist ein richtig gutes Angebot. Aber eine Stelle kann nicht alles abdecken. Die Charité arbeitet hauptsächlich mit pädophilen Männern. Eine Frau, die ihr Kind missbraucht oder Angst hat, es bald zu tun, hat in unserer Gesellschaft de facto keinen Ansprechpartner.

Katja Hagedorn – Man könnte auch in anderer Richtung präventiv wirken. Gerade auf Seiten der Opferhilfe gibt es engagierte Projekte und Vorschläge. Es wäre zum Beispiel wichtig, Menschen, die beruflich mit Kindern oder anderen Abhängigen arbeiten, in ihrer Ausbildung stärker auf das Thema zu sensibilisieren. Man könnte auch innerhalb von Institutionen Auflagen schaffen, die die Möglichkeit zum Missbrauch senken oder die Taten stärker ahnden. Um solche Ideen durchzusetzen, wäre aber gesamtgesellschaftlich eine andere Haltung nötig. Ich finde, es ist ein seltsamer Widerspruch zu beobachten zwischen einer extremen Verurteilung der Täter einerseits, mit all den verständlichen Gefühlen von Wut und Hass, die ihre Taten auslösen, und dem Versäumnis, mehr Strukturen zu schaffen, die solche übergriffe verhindern.

Thomas Jonigk – Ganz abschaffen kann man sexuellen Missbrauch aber nicht. Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass es dieses Phänomen schon immer gab. Es ist kein Symptom einer bestimmten Zeit oder Epoche. Unterdrückungswut und das Bedürfnis, Macht auszuüben sind anscheinend essentielle Bestandteile menschlicher Gesellschaften. Gerade darum ist es wichtig, sich zu fragen, wie man die Opfer schützen und ihnen Hilfe anbieten kann.

Daniela Löffner – Mir scheint trotzdem, dass das Thema in manchen Bereichen noch gar nicht angegangen wurde. Dazu gehört, sich ernsthaft mit Opfern und Tätern auseinanderzusetzen. Wenn man nur das Opfer anhört und den Täter nicht, isoliert man ein Stück weit auch das Opfer. Das Opfer bewegt sich manchmal über Jahre hinweg in der Welt des Täters. Wie soll man ihm aus dieser Welt heraushelfen, wenn man nichts mit ihr zu tun haben will?

Katja Hagedorn – Was für einen Eindruck habt ihr denn inzwischen von dieser Welt?

Thomas Jonigk – Sie hat sicherlich viele unterschiedliche Gesichter. Aber ich vermute, auf der Täterseite gibt es oft eine viel grössere emotionale Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, als man denkt. Das meine ich nicht entschuldigend. Aber ich stelle mir vor, dass diese Taten in einer grossen emotionalen Unreife und Unkenntnis von sich selbst und dem anderen Menschen begangen werden, in einer Bewusstlosigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Ich glaube, solche Taten haben viel mit der Unfähigkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, zu tun.

Katja Hagedorn – Es wird auch oft beschrieben, dass auf der Täterseite extreme Defizite und Ohnmachtsgefühle vorhanden sind, die dann in das Bedürfnis, Macht auszuüben, sich selbst in die Position des Stärkeren zu versetzen und einen anderen Menschen zu erniedrigen, umschlagen.

Daniela Löffner – Wenn ich über die Täter nachdenke, denke ich auch über Hilflosigkeit nach und über verschwimmende Grenzen. In „Täter“ beschreibt Magda den Missbrauch an ihrem Sohn als das überschreiten einer Grenze, die ihr nicht klar ist. Ich habe auch viel über den Moment unmittelbar nach dem Missbrauch nachgedacht. Es wird oft beschrieben, dass man sich wäscht oder aufräumt. Das hat mit Scham zu tun und wenn man sich schämt, weiss man, dass man etwas Falsches getan hat. Ich glaube, sobald ein Täter ein noch so kleines Bewusstsein dafür entwickelt, was er dem Kind antut, wird er alles dafür tun, seine Taten zu rechtfertigen oder zu verdrängen. Das Bewusstsein von der Monstrosität der eigenen Taten muss unerträglich sein, darum hält der Täter es so klein wie möglich.

Katja Hagedorn – In „Täter“ wird ein weites Spektrum an Täterpersönlichkeiten und ihren Rechtfertigungsstrategien beschrieben: von Erwin, der sich an seiner Tochter vergreift, über Mütter wie Karin, die wegschauen, und Magda und Frau Doktor, die ihre Kinder selbst missbrauchen, bis hin zu Karl, der fordert, dass Pädophile ihre Sexualität ausleben dürfen sollten.

Thomas Jonigk – Für mich war aber nicht so sehr das einzelne Täterprofil von Interesse, sondern eher die Fläche der Gesellschaft. Ich wollte ein gesellschaftliches Panorama schaffen, das von Tätern durchzogen ist. Ich habe nach einer Zuspitzung für die Opferseite gesucht, die deutlich macht, dass es innerhalb der Gesellschaft erstmal keinen Anker gibt. Am Anfang des Schreibprozesses standen die beiden Opfer. Die Szene, in der sie sich zum ersten Mal begegnen, habe ich als erste geschrieben. Ich wusste dann nicht, in welchen Kontext ich sie einbetten sollte und habe sie ein Jahr liegen lassen, bevor ich den Rest des Stücks geschrieben habe.

Katja Hagedorn – Du hast vorhin gesagt, dass dich idealisierende und verzerrende Opferdarstellungen wütend machen. Was ist anders an Petra und Paul und deiner Behandlung des Themas?

Thomas Jonigk – Mit Paul habe ich mich für ein untypisches Opfer entschieden, weil er ein Mann ist. Es gibt doch diesen Spruch: „Ein Mann ist kein Opfer und darum ist ein Opfer auch kein Mann.“ Männliche Opfer sexuellen Missbrauchs haben es noch heute sehr schwer, ihr Leid zu artikulieren, weil ihre Erlebnisse auf eine andere Art schambesetzt sind als die weiblicher Opfer. Ein männliches Opfer wird sofort gefragt: „Warum hast du das mit dir machen lassen, warum hast du deine Mutter nicht einfach zusammengeschlagen?“ Ausserdem hat mich interessiert, ob Petra und Paul eine authentische Sprache für das Erlebte finden können: wie sie aus der Haltung von Verstummten über das Berichten des Erlebten zu einem eigenen Ausdruck finden. Sie nehmen viele Umwege und werden auch vulgär und selbstverachtend, bis sie endlich formulieren können, wie sie sich fühlen. Ihr Weg heisst sprechen lernen. Die beiden reden unheimlich viel, aber das ist auch nötig. Es macht sie auch anstrengend. Das war mir wichtig: dass es sich nicht um pflegeleichte Opfer handelt. Und dass man das Thema nicht sentimentalisiert. „Täter“ spielt mit übertreibung und Groteske. Ich glaube nicht, dass man diesem Thema didaktisch oder erklärend beikommt. Und mit Melodramatisierung schon gar nicht. Je mehr man eintaucht, desto unfassbarer wird es.

Daniela Löffner – In Petra und Paul begegnen sich zwei wunde Menschen und stellen sich ihrer Wundheit. Sie sehen im anderen die eigene Verletzung und betasten sie, und das tut weh. Darum ist jede Begegnung ein Schmerz, der aber auch wach hält und Trost bietet. Paul kann klar benennen, dass Petras Vater ein Schwein ist, als es ihr selbst noch nicht möglich ist. Und Petra spricht aus, dass Pauls Mutter eine Drecksau ist. Das ist ein Geschenk. Deswegen ist die Geschichte von Petra und Paul auch eine grandiose Liebesgeschichte.

Thomas Jonigk – Das stimmt. Es ist wirklich eine Liebesgeschichte, weil es zwischen den beiden darum geht, wie man den anderen so sein lassen kann, wie er ist. Ich finde, Freiheit ist ein ganz wichtiger Begriff, wenn es um Liebe geht – egal, ob es sich um Beziehungen zwischen Erwachsenen oder zwischen Eltern und Kindern handelt. Es geht nicht darum, wie man den anderen am besten an sich ketten kann. Sondern darum, wie man am besten man selbst sein kann und wie der andere es zulässt.

Erstabdruck: Programmheft Schauspielhaus Zürich Nr. 19, Saison 2010/11