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LIEBESGESCHICHTE
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Melodram
Vierzig Tage
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Jupiter
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ROMAN KURZBESCHREIBUNG
LIEBESGESCHICHTE
Eines Abends nach den Ordinationsstunden taucht in der Praxis des praktischen Arztes Alexander Wertheimer ein dubioser und verängstigter Mann auf. In seiner Begleitung eine schwer verletzte, vermutlich minderjährige Ukrainerin. Liebesgeschichte ist das Protokoll, das Wertheimer von dieser Begegnung mit Maria Melnyk und von den fatalen Folgen, die daraus erwachsen, anlegt.
Persönliche Erinnerung, Bekenntnisschrift, Verteidigungsrede und Schuldeingeständnis gleichzeitig, ist dieses Protokoll ein Kosmos aus Pathologie und Gewalt, der vom Erzähler aber als Liebe und leidenschaftliche Zuneigung wahrgenommen wird.
Thomas Jonigk wirft in seiner unverwechselbaren eleganten Stilistik das übliche Täterprofil über den Haufen – Alexander Wertheimer ist ein reflektierender, feministisch denkender, Andrea Dworkin und Ingeborg Bachmann zitierender Mann, dem das alles nicht passieren dürfte; aber er ist leider auch ein sich selbst ausgelieferter Mann, der einem bei der Lektüre, auch wenn er sich völlig schutzlos darbietet, von Seite zu Seite unheimlicher wird.
Jonigks Meisterschaft in der Darstellung von Gewalt und Abhängigkeiten in Familien-, Sex- und Liebesbeziehungen, der Macht der Phantasien und der Sehnsucht nach Erlösung erweist sich auch in Liebesgeschichte, wo er seinen subversiven Witz ganz besonders verstörend einsetzt.
LIEBESGESCHICHTE
ISBN 978-3-85420-975-1, Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2016
ROMAN ROMANAUSZUG
LIEBESGESCHICHTE (Romananfang)
Jetzt, in der Nacht, ist Maria blass, fast unsichtbar. Ich betrachte sie, hingerissen/fassungslos angesichts von soviel Schönheit. Nichts, keine Unebenheit, kein Mal, entgeht meinem Blick, ihre langen, gelbblonden Haare erinnern an Sonnenstrahlen, wie Kinder sie zeichnen. Um Augen und Mundwinkel herum sind minimale Andeutungen von Falten zu erkennen und auf der Nase, den Schultern, den Armen und oberhalb des Brustbeins Felder mit winzigen Sommersprossen. Auf den noch immer leicht bläulichen, schmalen Lippen zeigt sich Herpes simplex labialis mit zwei nässenden und einem noch geschlossenen Fieberbläschen im Bereich des Amorbogens. Ihr Zahnfleisch ist rosig und gesund, während die spitz zulaufenden Eckzähne gefährlich wirken.
Ich studiere Maria, ich lerne sie auswendig, will sie fotografieren und in Stein hauen. Ich will sie vorlesen wie eine Gebrauchsanweisung oder ein Gedicht, aber die Verse kommen nicht über meine Lippen: Mir wird klar, wie wenig ich von ihr weiß bzw. wie viel von sich sie vorenthält. Hinter ihren verschlossenen Lidern ist ein Geheimnis, eine sinnlose Entfernung von ihr zu mir, die Fernweh auslöst.
Thailand.
Indonesien.
Indien.
Da liegt sie: schwach/mager, bewegungslos unter dem weißen Laken, das Frau Anwart (mit großer Wahrscheinlichkeit) aus dem Vorratsschrank in Behandlungszimmer 2 genommen hat, und plötzlich muss ich an Anuphap denken und an Sutheera. Ich denke an Sita und an all die anderen, deren Namen ich vergessen oder gar nicht erst erfahren habe; ich muss an aufgebahrte bzw. aufgeschnittene Körper mit hervorquellenden Organen in Obduktionssälen und Lagerhallen denken, wie der Durchschnittsbürger sie höchstens aus us-amerikanischen Krankenhausserien (oder Horrorfilmen) kennt. Und dann sind da plötzlich diese Bilder, eine Version der Zukunft, die sich merkwürdiger-/unlogischerweise schon jetzt ereignet: Ich blättere in einem dünnen Buch mit vergilbten, schwarz eingerahmten Seiten, die ich auf den ersten Blick für Todesanzeigen halte. Der Schriftsatz ist altmodisch, der Inhalt (selbst für einen literaturaffinen Akademiker wie mich) komplett unverständlich; abgesehen davon irritiert mich, dass das Wort „Maria“ auf keiner einzigen Seite auftaucht. Von meinem Namen ganz zu schweigen, und das, obwohl es sich bei diesem Buch offensichtlich um so etwas wie eine Edition unserer Lebensgeschichte handelt.
Die Bilder verschwimmen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass (und erst recht nicht wann) ich mich über Maria gebeugt habe, aber offenbar habe ich es getan, meine Arme sind rechts und links von ihr aufgestützt und verhindern, dass mein (leider stark übergewichtiger) Körper auf ihr zusammenbricht. Ich verlangsame, bewege mich IN ZEITLUPE, fast berührt mein rechtes Ohr ihren Thorax. Ich horche in sie hinein: Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, der Herzschlag ist schwach, aber regelmäßig, und beweist, DASS MARIAS GEGENWART KEINE EINBILDUNG IST.
Das Wort „Möglichkeit“ fällt mir ein.
FOLGERICHTIGKEIT.
WEITER.
Meine Nasenspitze ist verschwitzt. Sie gleitet langsam über Marias Gesicht, dann über Kinn, Hals und Brustbein. Ich sehe, höre, rieche nichts, bin voll und ganz Tastsinn: Ihre Haut ist weich und bis auf die schorfigen bzw. aufgerauten Stellen gleich unter dem spitzen Kehlkopf pelzig wie eine sonnengereifte Aprikose/Kiwi. Diese Haut ist Einladung und Verheißung, sie überzieht Maria und ihren Körper wie Folie oder Geschenkpapier, das ich auf der Stelle aufreißen würde, wenn da nicht diese Angst wäre. Die Angst bzw. Erkenntnis, dass ihr Körper nie meiner sein wird, klafft für ein paar Sekunden als Abgrund zwischen uns, ALS UNMÖGLICH ZU ÜBERWINDENDE GRENZE, aber dann wird mir klar, dass es sich bei der Entfernung von ihr zu mir vielleicht nur um einen Katzensprung handelt, schließlich ist die Epidermis maximal 0,03 bis 0,05 Millimeter dick und hält nicht einmal leichten Schnitten/Stichen stand hält (Anm.: überprüfen/verifizieren!). Irgendetwas an der Vorstellung finde ich komisch, aber ich unterdrücke mein Lachen, weil viele finden, dass es wie Hundegebell klingt, und ich nicht weiß, ob Maria Hunde mag. Oder Angst vor ihnen hat. Wie einige meiner älteren Patientinnen bzw. meine Sprechstundenhilfe Frau Anwart, für die REHPINSCHER oder ZWERGPUDEL den Gipfel an Animalität darstellen. Und deshalb sehen diese Damen in mir oftmals so etwas wie ein SCHOSSHÜNDCHEN, hilfsbedürftig/überfressen/verfressen und komplett abhängig von ihrer Fürsorge. Als Praktischer Arzt dieser Patientinnen fühle ich mich verpflichtet, die mir zugewiesene Rolle zu akzeptieren, aber ich empfinde es als Totalabsage an mich als Mann, das Liebesobjekt/der Traumprinz altjüngferlicher Frauen zu sein.
Oder alleinstehender/sitzengelassener Exemplare wie meiner Nachbarin (Barbara Umlauf).
Sie hat gesagt, ich hätte schöne Augen.
Wie Maria.
Meine Wange auf ihrer Haut.
Größer kann Nähe nicht sein.
Ich atme ein.
Ich bin Geruchssinn: Ihr Schweiß erinnert mich an warme Milch (Katharina vergleichbar), Milch mit Honig, um die Achselgegend herum stellenweise auch ein bisschen holzig. An der Innenseite der Oberschenkel und am Unterbauch herrscht der stechende Geruch antibakterieller Flüssigseife vor, die ich vor weniger als einer Viertelstunde benutzt habe, um das Blut von ihrem Körper abzuwaschen bzw. abzutupfen: Bei zu starkem Druck hätte die Gefahr bestanden, sie zu verletzen, ihr durch eine unbeherrschte Bewegung, einen Tritt, Stoß oder Schlag (oder was auch immer) irreparablen Schaden zuzufügen. Aber ich als alter Profi (über 20 Jahre Berufserfahrung) habe gleich bemerkt, dass ihre Haut aus Glas ist, aus hauchfeinem, mit bläulichen Adern durchzogenem Porzellan, eine auserlesene Kostbarkeit, ein unbezahlbares Sammlerstück: Ich kann nicht glauben, dass es in meinen Händen ist. Maria.
Maria Melnyk.
„Meine Kleine“ hat DIE BESTIE sie genannt, DIE BESTIE, die mit bürgerlichem Namen Anton Lauterbach heißt. Ohne Punkt und Komma hat dieses widerwärtige Subjekt geredet: linkisch, hysterisch und grammatikalisch fragwürdig. Maria nicht, Blicke, Gesten, mehr war zwischen uns nicht nötig. Und das wenige, was sie gesagt hat, weiß ich auswendig: „Nein“, „Herr Doktor“, und vor allem „Bitte“, immer wieder das Wort „Bitte“, mit gedehntem i und a mit Trema statt e am Ende, weshalb ich gleich vermutet habe, dass sie slawischer Herkunft ist. Für diese (möglicherweise als biologistisch misszuverstehende) These sprechen auch ihre markanten Wangenknochen und die weit auseinanderliegenden Augen, die für den Raum Russland/Weißrussland/Ukraine typisch sind. Ihren Nachnamen habe ich erst später erfahren.
Ich frage mich, wie ihr Vater heißt. Ob sie ihrer Mutter ähnlich sieht. Wie sie lebt. Und noch wichtiger: Wie sie gelebt hat.
VOR DER ZEIT MIT DER BESTIE.
VOR DER ZEIT MIT ANTON LAUTERBACH.
DIE BESTIE ist wahrscheinlich Anfang bis Mitte Dreißig, ebenso gewöhnlich wie gefährlich. Seine Höflichkeit, die schmierige Galanterie und widerliche Unterwürfigkeit: alles einstudiert, alles Taktik, schließlich musste er damit rechnen, dass ich ihn und Maria hinauswerfe oder den Behörden melde. Frau Anwart hat (zu Recht) irgendetwas in der Art von mir erwartet. Es hat ihr regelrecht die Sprache verschlagen, als ich sie in ihren widerlichen Tweedmantel befördert und mit höflichen, aber entschiedenen Worten nach Hause geschickt habe. Wie gesagt: Auch sie eine von diesen alleinstehenden Frauen in der zweiten/einsamen Lebenshälfte, die Arbeitszeit mit Intimität verwechselt. Höflichkeit mit Zuneigung.
ICH NICHT.
DIES IST EINE LIEBESGESCHICHTE.
LIEBESGESCHICHTE
ISBN 978-3-85420-975-1, Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2016
ROMAN ROMANAUSZUG
Melodram (Romananfang)
Die ehemals berühmte Schauspielerin Karin Hoffmann sieht sich einer unbestimmten Bedrohung ausgesetzt. Seit einiger Zeit erhält sie, in immer kürzeren Abständen, Briefe von jemandem, der ihre Tagesabläufe bis ins letzte Detail beschreibt und der sich wie ein Schatten über ihr Leben legt. Zunächst mutmaßt sie, ihr Mann Wolfgang, mit dem sie zahlreiche bedeutende Filme gedreht hat, könnte dahinter stecken. Gleichzeitig geht die Karriere ihrer Tochter Karla einem neuen Höhepunkt entgegen, ausgerechnet in einem Film mit dem Titel „Melodram“.
In weiteren Rollen treten auf: die Produzentin Fiona und der magere, schüchterne und in Zitaten sprechende Hans, der eigentlich bereit wäre für die wahre Liebe.
Melodram: Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2013
ROMAN ROMANAUSZUG
Vierzig Tage
Die Welt ist eine Katastrophe.
Luftangriffe, Kampfflieger, Verletzte, Tote – und jetzt hat es auch noch begonnen, vierzig Tage und Nächte lang zu regnen.
Alles ist schief gelaufen. Jan Jonas’ Vater ist tot, wer weiß, vielleicht hat er, der Sohn, ihn umgebracht.
Und damit beginnt für Jan eine surreale und ebenso dramatische Reise hin zu seiner eigenen Vernichtung – oder ist das, was ihm da am Ende froschgesichtig zuwinkt, vielleicht doch das Glück?
Vierzig Tage: Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2006
ROMAN ROMANAUSZUG
Jupiter
Der 19-jährige homosexuelle Martin, komplexbehaftet und in seiner Identität bis zur Unkenntlichkeit verformt, versucht verzweifelt, seinen Traum von privater Normalität zu verwirklichen.
Nur durch komplette Verdrängung des jahrelang erfahrenen sexuellen Missbrauchs und die Spaltung seiner Persönlichkeit kann er das dauernde Wechselbad zwischen Erniedrigung und Schuldgefühl ertragen – bis hin zur finalen Katastrophe: Innenansichten eines Traumatisierten.
Jupiter: Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1999
Wie ist es möglich, glücklich zu sein?
Das ist die zentrale Frage, mit der sich die beiden Protagonist*innen aus Weiter. auseinandersetzen. Nehmen wir Veronika: Sie war in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt und Lieblosigkeit ausgesetzt, wovon wir auf den ersten Seiten des Romans erfahren. – Und nehmen wir Robert: Er wurde gerade von seinem langjährigen Partner verlassen, der sich in eine Amour fou mit einem 18-Jährigen gestürzt hat. Aufgelöst und am Boden zerstört trifft er im Mai 1986 in einem Westberliner Café auf Veronika. Von da an geht es aufwärts, es kommt Hoffnung auf – es geht weiter.
Veronikas harte Schale beginnt zu bröckeln, und Roberts Ballast fällt langsam von ihm ab. Die beiden Unbekannten ziehen sich gegenseitig aus der Misere. Nach und nach nehmen ihre Wünsche und Sehnsüchte Gestalt an: ein Leben mit Liebe, Sicherheit und Geborgenheit. Veronika und Robert müssen ihr Leben in die Hand nehmen: Was können sie für sich tun? Und: Wofür entscheiden sie sich?
WEITER.
ISBN 978-3-99059-047-8, Literaturverlag Droschl Wien – Graz 2020
WEITER. (Auszug aus Kapitel 2)
Veronika beschließt, nach Hause zu gehen. Dort wird Helga (mit rasselndem Atem, halb geschlossenen Augen und offener Bluse, aber ansonsten vollständig bekleidet) im Bett liegen und schlafen. Das Wort Schlaf trifft es eigentlich nicht; es handelt sich mehr um einen Abfall ins Funktionsunfähige. Das Erbrochene neben ihrem Kopf bzw. auf dem Kopfkissenbezug ist wahrscheinlich senffarben gewesen, mit festen Stücken durchsetzt und hat einen fauligen, beißenden Gestank im Raum verbreitet; Veronika weiß aus unfreiwilliger Erfahrung, dass in den nächsten zwei bis drei Stunden (glücklicherweise) nicht mit ihrer Mutter zu rechnen ist.
Weiter.
Veronika verlässt das Zimmer und schließt die Schlafzimmertür hinter sich. Beim Durchqueren der Küche fällt wieder einmal die fast sterile, jedes Leben abtötende Sauberkeit des Raumes auf, darauf legt Helga Wert, selbst, wenn sie noch so zugesoffen ist, schafft sie es, Spülbecken, Schrankoberflächen, den Linoleumboden, Kühlschrank und Elektroherd mikroskopisch sauber aussehen zu lassen. Ein Raum wie ein Schaufenster, eine Ausstellungsfläche: unbenutzt, menschenleer, abgeschirmt von der Außenwelt, zehntausend Kilometer unter der totenstillen Meeresoberfläche. Ich imaginiere, skizziere, rekonstruiere Veronika, sie schmiert sich eine Scheibe Brot mit Butter und grober Leberwurst und trinkt ein Glas Apfelsaft, wäscht und trocknet Glas, Messer und Teller ab und stellt alles wieder an seinen Platz. Anschließend geht sie in das Badezimmer und schließt die Tür hinter sich ab. Sie zieht ihre Hose, dann ihre Unterhose herunter und stellt fest, dass diese blutig ist. Ihr Schritt. Die Innenseite ihrer Oberschenkel. Dunkles, dickflüssiges Blut: Genau das hat Veronika schon seit einiger Zeit erwartet bzw. befürchtet: Die von ihr verleugnete Weiblichkeit greift mit aller Kraft von innen heraus Raum und pfercht Veronika in den Körper einer unterwürfigen, geschlechtsreifen, fruchtbaren Frau ein. Einer Frau, die bei dem, was ihr Vater immer und immer wieder mit ihr gemacht hat, zu allem Übel auch noch einen Orgasmus haben muss. Und schwanger wird. Kindsmutter. Helga. Nein, weiter kann Veronika auf keinen Fall denken, sie greift zu den unter dem Waschbecken befindlichen Putzmitteln, Essigreiniger, vielleicht Dor oder auch Domestos (wenn es das 1976 in Deutschland schon gab), spritzt etwas davon auf ein paar Blätter Toilettenpapier und reibt damit so lange über ihren Bauch, ihr Geschlecht und ihre Schenkel, bis kein Blut mehr zu sehen ist. Das scharfe Putzmittel brennt auf der Haut, den Schamlippen und an den abgekauten Stellen um die Fingernägel herum, aber das hält Veronika nicht davon ab weiterzumachen. Für einen trügerischen Augenblick hofft sie, der ihr selbst zugefügte Schmerz könne jede in Gang gesetzte Veränderung ihres Körpers wegätzen, eine Art grundlegende Abtreibung alles Weiteren bzw. Weiblichen und Helgahaften in ihr bewirken, aber dann bricht sie die Aktion ab und fängt an zu weinen. Veronika weint. Und die Tränen sind nicht durch Essigreiniger, Dor oder Domestos ausgelöst worden, nein, Veronika weint, weil sie weiß, dass es vorbei ist. Widerstand ist zwecklos: Das, was sie sich unter Einsatz aller Kräfte als Ich – als Identität – erarbeitet hat, wird durch eine alles dominierende Biologie ersetzt. Veronika wird ersetzt. Abgeschafft. Was heißt das konkret? Veronika wird sich einreihen, sein wie alle anderen, wie Ermine Fest, geborene Graumann, Helga Kuschinszki, geborene Fest, und all die vollbusigen, hochhackigen, nach Parfüm und Bodylotion und Apfelshampoo und Conditioner und Drei-Wetter-Taft und Kaugummi mit Erdbeergeschmack und Gebärbereitschaft und Fruchtbarkeit stinkenden Mädchen in ihrer Klasse, allen voran die sich aggressiv auf Primärreize reduzierende Evelyn Schauer (16), aber auch Jutta Kübler (15), die wie ein Trüffelschwein auf die Suche nach einem potentiellen Lebenspartner gewesen und mit Burkhard Stenz (Sitzenbleiber, 17) viel zu schnell fündig geworden ist. In puncto Körpergröße ist er ihr um fünfzehn Zentimeter überlegen; intellektuell, seine Schulleistungen, seinen Humor, sein Ausdrucksvermögen und seine äußere Erscheinung betreffend kann er ihr (wie Veronika findet) nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen – und das sagt (angesichts von Juttas ziemlich beschränktem Horizont) einiges. Trotzdem: Jutta schmückt sich mit ihm, präsentiert ihn wie eine Auszeichnung, für sie verkörpert er sechs Richtige mit Zusatzzahl, das Bundesverdienstkreuz, an seiner Seite wird sie Miss Germany oder Bravo-Girl 1977, zumal sie immer schon gefunden hat, dass die Vorjahressiegerin Ulrike Grätz aus Puchheim/Bayern (16) total hässlich ist, keine Zierde ihres Geschlechts, ganz im Gegensatz zu ihr, zur neben ihrem Burkhard aufgewerteten Jutta: Sie strahlt Stolz, Selbstachtung, Kinderliebe, Fürsorge und Ernst aus, unglaublich, sie leuchtet vor Bedingungslosigkeit und Hingabe an die Mittelmäßigkeit ihres Partners und ihres Schicksals: endlich festgelegt. Endlich auf der Zielgeraden. Endlich deckungsgleich mit der ihr zugewiesenen Rolle, die sie – wie unzählige Generationen von Frauen vor ihr – dankbar annimmt. Sie besteht geradezu darauf. Sie tut alles dafür, der vorhersehbaren Unterforderung gerecht zu werden. Der vorgeschriebene Weg, den sie, nur mit Halbwissen ausgestattet über das, worauf sie um nichts in der Welt verzichten will, vorwärtsschreitet, ist der einzig Richtige: Jutta Stenz, geborene Kübler, sagt sich, dass sie diesbezüglich nicht die geringsten Bedenken zu haben hat. Das ist ihre Aufgabe und dieser – nimmt sie sich vor – wird sie die nächsten Jahrzehnte über gerecht werden. Veronika drückt es einfacher aus, zynischer, wie es ihre Art ist: Menstruation, Menopause, mausetot. Menstruation, Menopause, mausetot. Menstruation, Menopause, mausetot. Natürlich weiß sie, dass Frauen manchmal auch Ausnahmen sind, immer wieder hat sie versucht, Alice Schwarzer zu lesen, Betty Friedan, Doris Lessing, Virginia Woolf und Sylvia Plath. Aber das sind Phantome, Buchseiten, Fiktionen, das extrem schwache Echo aus der Tiefe eines Abgrunds, vage, diffus, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht real. Und ins Wasser zu gehen oder den Gashahn aufzudrehen, den Kopf in den Backofen zu stecken, das ist nichts für Veronika, die blockiert ist, wie ausradiert, keine Strategie im Kopf, nichts. Was jetzt? Wie weiter? Warum überhaupt bis hierhin? Und die am schwersten zu beantwortende Frage: Wohin? Instinktiv blickt Veronika auf zur Badezimmerdecke, über der sie den Himmel vermutet. Beliebt, exklusiv, überbucht.
Weiter.
Veronika stellt das Reinigungsmittel zurück unter das Waschbecken, wickelt die blutige Unterhose in Toilettenpapier ein, stopft sie ganz unten in den links von ihr stehenden Mülleimer, deckt sie mit Toilettenpapierrollen sowie zerknüllten Kosmetiktüchern ab, um sie (zumindest kurzfristig) vor Helgas Blick zu verstecken, zieht ihre Hose wieder hoch, betätigt die Toilettenspülung, geht zwei Schritte und bleibt vor dem Badezimmerspiegel stehen. Das Gesicht darin ist ungeschminkt, keine Ohrringe, kurz geschnittenes, ungepflegtes Haar und herabhängende Mundwinkel. Trotzdem kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass das Gesicht im Spiegel das Gesicht einer Frau ist. Dieser Tatsache entkommt Veronika nicht: Veronika Mustermann, geborene Kuschinszki, Tochter und anatomisches Ebenbild von Helga Kuschinszki, geborene Fest. Bilder von Freakshows, Kreißsälen, Gefängnis- und Gummizellen jagen durch Veronikas Kopf. Sie ballt ihre rechte Faust, aber die erprobte Geste überzeugt nicht mehr, die zusammengepressten Finger wirken kraftlos, die Gebärde überzogen, geliehen. Unrechtmäßig bzw. systematisch angeeignet vom anderen Geschlecht, dem starken, definitionsmächtigen.
Weiter.
Die fast 15-jährige empfindet ihren Zustand als zum Kotzen, die ausgrenzenden Gesetzmäßigkeiten der Welt als fies bzw. totale Scheiße. Diese Sprache wird sie sich schon bald wieder abgewöhnen, nicht als Resultat einer bewussten Entscheidung, überhaupt nicht, rückblickend wird Veronika alles als schleichenden Prozess beschreiben, an dessen Ende sie stumm geworden ist. Keine Kraftausdrücke mehr: Sprachlosigkeit. Schweigen. Die Wörter entziehen sich, werden schemenhaft, verwaschen wie das ehemals khakifarbene T-Shirt das sie zu ihrem 10. Geburtstag von Tante Evelyn geschenkt bekommen hat.
Undeutlich wie die dahindämmernde Welt vor dem Ende.
Sprache insgesamt: Ihre Anwendung kommt Veronika immer problematischer bzw. absurder vor, der Sinn der Wörter und aus Wörtern zusammengesetzten Sätzen entzieht sich ihr. Veronikas Dilemma (bewusst abstrakt formuliert): Die zunehmende Unverständlichkeit der Wörter führt zu einem anwachsenden Gefühl von Sinnlosigkeit im Moment ihres Aussprechens. Hierfür zwei Beispiele: Warum Nein sagen, wenn trotzdem geschieht, wogegen man sich entschieden hat? Und Beispiel Nr. 2: Warum Ich, wenn zwischen Veronika, Helga, Ermine, der dicken Birgit, Tante Evelyn, Jutta Kübler und Evelyn Schauer kein erkennbarer Unterschied besteht? Veronika fühlt sich ihrer Sprache enteignet. Ihrer Realität. Ihrer Wahrnehmung. Ihrer Logik. Zuerst hat sie gedacht, dass all das nichts anderes als eine Verkettung unglücklicher Umstände ist, ein wieder mal echt ätzender Tag, ein vorbeiziehendes Tief. Pech gehabt. Zufall (vielleicht). Jetzt aber ist sie sicher, dass es sich um eine Verschwörung handelt, um irgendeine von langer Hand vorbereitete Übereinkunft mit dem Ziel, Veronika ihres Körpers, ihres Ausdrucks und des von ihr beanspruchten bzw. anvisierten Raumes zu berauben. Dessen, was sie früher unhinterfragt als freien Willen bezeichnet hätte. So jedenfalls wird sie es in sechs bis sieben Jahren ausdrücken. Außerdem wird sie (wie immer bei diesem Thema) die Augen verdrehen und ein bitteres Lachen ausstoßen: Als erwachsene Frau weiß sie natürlich, dass es den freien Willen nicht gibt, er ist nichts als eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, eine Propaganda- bzw. Illusionsmaschine, die Entscheidungskraft und Spielraum vorgaukelt. Aber nichts davon existiert. Hinter der vorgetäuschten (Entscheidungs-)Freiheit lauert das Leben und schnürt Veronika die Kehle zu, sobald sie überlegt, Nein oder Ich oder Ich will oder Ich will nicht sagen zu wollen.
Weiter.
WEITER.
ISBN 978-3-99059-047-8, Literaturverlag Droschl Wien – Graz 2020