Von Yvonne Gebauer
VaterMutterKind – Familie. Hier fängt alles an. Weiterhin. Und dann geht der Weg hinaus aus der Familie, hinein in die singuläre Einzelseele. Hinein in Rollenbilder und Pflichten und Anforderungen und Überforderungen jedes einzelnen Einzelwesens. Und wir sind mitten im Unglück. Und mittendrin in Thomas Jonigks Texten.
Alle haben hier schwere Lasten zu tragen. Unerträglich. Ekelhaft. Furchtbar. Bei so viel Gepäck des Lebens ist es schon in „Rottweiler“ nicht leicht, „sich aus der Vergangenheit zu lösen und in die Gegenwart zu versenken“. Und man muss sich gewaltig anstrengen, um noch an einem halbwegs glückreichen Leben teilhaben zu können. Was ist das für eine Welt, …
ESSAY ÜBER THOMAS JONIGK
Die Pole bereisen.
Ein paar Beobachtungen zu den Texten von Thomas Jonigk
Von Yvonne Gebauer
VaterMutterKind – Familie. Hier fängt alles an. Weiterhin. Und dann geht der Weg hinaus aus der Familie, hinein in die singuläre Einzelseele. Hinein in Rollenbilder und Pflichten und Anforderungen und überforderungen jedes einzelnen Einzelwesens. Und wir sind mitten im Unglück. Und mittendrin in Thomas Jonigks Texten.
Alle haben hier schwere Lasten zu tragen. Unerträglich. Ekelhaft. Furchtbar. Bei so viel Gepäck des Lebens ist es schon in „Rottweiler“ nicht leicht, „sich aus der Vergangenheit zu lösen und in die Gegenwart zu versenken“. Und man muss sich gewaltig anstrengen, um noch an einem halbwegs glückreichen Leben teilhaben zu können. Was ist das für eine Welt, in der man sich das Leben einrichtet wie eine Wohnung und sich gar nicht so unglücklich schätzt, wenn man, wie die Tochter in „Rottweiler“ sagen kann: „Ich werde nicht von allen geschlagen, und ich habe einen Tag in der Woche frei.“ Oder, wie es in „Täter“ heisst: „Ich lebe nicht. Ich überlebe. Das reicht.“
Es nagt etwas an fast allen dieser Figuren. Mit Schuldgefühlen und Missverständnissen, mit Unsicherheit und wenig Selbstbewusstsein gehen sie durch die Texte. Zeile um Zeile: „Ich weiß nicht, ob ich mich schön finde. Man hat´s mir nie vorgeschlagen.“ So spricht die Tochter in „Rottweiler“.
Thomas Jonigks Sympathie und Schreiben gilt all denen, die Schwierigkeiten damit haben, sich in der schönen neuen ungeschichtlichen Welt zurechtzufinden, all denen, die normativen Begriffen zufolge zu alt, zu hässlich, zu unfähig oder aus welchen Gründen auch immer zu unpassend erscheinen mögen. All denen, die langsam dahindämmern mit dem Gefühl, sich selbst abhanden zu kommen und sich selbst zum Ding zu werden. Er ist der genaue Beobachter dessen, was nicht hineinpasst in eine Welt der Oberfläche und der Funktionalität, die nichts als Glück zu versprechen scheint.
Wie unter Schock blicken seine Figuren auf die Forderungen des Marktes. Sie sind informierte Zeitgenossen, wie man sie unter anderem in „Jupiter“ portraitiert findet. Sie kennen sich aus mit den traurigen Konsumprodukten und mit den Vor- und Nachteilen von Orangensaftkonzentrat, feuchtem Toilettenpapier, Fischkonserven (man beachte Hering in Tomate) und Gummihandschuhen. Überhaupt und immer wieder: Gummihandschuhe.
All diese Einzelnen sind voll funktionstüchtig und setzen die passenden Gesichter auf in den Leben, die mit ihnen geführt werden. Zwischendurch ringen sie um Selbstermächtigung und um ein eigenes Leben, und sie sind sich wie in „Täter“ sicher: „Ganz bestimmt beende ich hoffentlich mein Leben, das ich immer niemals gehabt hätte.“
Diese Welt aus Leerlauf und Leid, aus Ekel und Erektion ist voller deprimierender Begegnungen, verfehlter Gespräche, oder vielmehr: Wortwechsel, die ins Nichts ragen. „Akustiken, die der guten Unterhaltung dienen“, nennt Thomas Jonigk sie in seinem Stück „Rottweiler“.
In dieser Landschaft bewegen sich Thomas Jonigks Texte, Hand in Hand mit ihren Figuren, die zwischen den Extremen von Schmerz und Gewalt auf der einen und Glück und Seligkeit auf der anderen Seite herumirren und sich immer wieder verlaufen.
„Wie mein Gefühl nach Flügeln oder einem Ende schreit“ – hat Rilke in einem Gedicht geschrieben. Und Thomas Jonigk hat es seinem Roman „Vierzig Tage“ wie einen Wegweiser vorangestellt. Seltsam, dass nur ein kleiner Schritt, ja eine winzige Entfernung zwischen dem radikalen Anfang und dem endgültigen Ende, zwischen dem Schrecken und der Seligkeit liegt.
Die geknechteten und eingepferchten Seelen haben sich schließlich beruhigt und hineingefunden in ihre Ausgangslage. Die Ausgangslage, das ist ihre Schieflage, die Welt, die aus den Fugen geraten ist. In diesem einen Moment am Ende, kurz vor der Sintflut, können die Menschen noch einmal sich und einander fragend anblicken, und vielleicht können sie sagen, dass sie „die Kontrolle über ihre Kontrolle“ verloren haben. Von dort aus können sie loslaufen ins Ungewisse, und das kann nicht so viel schlimmer sein als all das, woher sie kommen.
„Wer wagt schon noch, über das, was er denkt, hinauszudenken?“ fragt Jonigks befremdlicher Kommissar in „Vierzig Tage“, und er spricht so schön über das Ungewisse. Anstatt Fragen zu stellen oder Antworten zu geben, erzählt der Kommissar Geschichten. Es sind Geschichten, in denen sich die Welt umkehrt und von einer anderen Seite aus sichtbar wird, Geschichten in denen er plötzlich „auf einen gut gefärbten Horizont“ blickt und die „Röte des Roten, die Bläue des Blauen, die Gelbheit des Gelben, ja die Gegenwart der Gegenwart“ empfinden kann.
Das Ungewisse ist es, das Jonigks Figuren leitet. Die andere Möglichkeit. Es sind die Mittel und Wege des Übersprungs in die Phantasie und in die Bereiche, die sich der festgezurrten Definition, des Zugriffs, der Kontrolle und der Gewalt entziehen. Es sind die Grauzonen des Dazwischen. Hier gerät die Welt in Schwebe.
Eingeladen sind alle möglichen Wunschphantasien, die imstande sind, die Oberflächen zu unterwandern und zu unterminieren. In seinem Stück „Weiter träumen“ ist es die Gestalt eines immer wiederkehrenden Orang Utan, die hinüberlockt ins Unbekannte. Die andere Möglichkeit ist immer schon wie ein Versteck und eine Seltenheit, wie ein Irrlicht und ein Hoffnungsschimmer durch Thomas Jonigks Texte gegeistert. Als absurder Traum, Schlaf oder kreischender Humor, der immer fragwürdiger wird je mehr seine Figuren dem Abgrund sich nähern. Aber das ist ja das Wesen des Absurden. Lachen, auch wenn es gar nichts zu lachen gibt. Und immer weiter und weiter so. Das köstliche Leben ist verborgen und wird doch greifbar manchmal, und die Wünsche werden ins All geschossen.
In seinem Roman „Vierzig Tage“ hat die andere Möglichkeit eine überraschende Form angenommen. Denn das Mädchen, dem Jan, unsere Hauptfigur des Elends, begegnet, erscheint wie eine Ausgeburt, „eine bewegungslose Fleischmasse“, eine unförmige froschgesichtige Gestalt, die vielleicht auch eine junge Frau ist. Doch Jan hat sich längst in sie verliebt. Und dies in aller Ungläubigkeit. Was er nun entdeckt, ist eine Zufriedenheit, und er vernimmt ganz unerwartete Klänge, die befreit ins Außen wachsen. Tief unten, gespeichert in seinem Körper tauchen Erinnerungen auf, an andere Tage, Feiertage, Geburtstage oder Sonntage. Sonntage des Lebens.
So wird aus einem Endzeit-Roman ein Roman über den Anfang und über die schöne Entdeckung, dass man das Unerträgliche nicht ertragen muss und dass die Schönheit an den unscheinbarsten Orten und in Regionen von überwältigender Hässlichkeit eine Herberge hat. Und dass es möglich ist sich anzusiedeln, irgend- und nirgendwo, wie es bei Musil heißt, zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit.
Und so wird aus einem Schreiben des Endes und des Nicht-mehr-weiter-Könnens, aus einem Schreiben des Scheiterns und der Unmöglichkeit jeweils und immer wieder ein Schreiben des anderen Anfangs. Das heißt: Thomas Jonigks Texte umkreisen auf ganz unterschiedliche Weise den immer wieder unternommenen Versuch der Verwandlung. Fast programmatisch trägt eines seiner Stücke den Titel „Weiter träumen“. Hildegard spricht es aus: „Auf keinen Fall geweckt werden. Einfach weiter schlafen. Weiter träumen.“ Und niemals wird man wissen, ob das nicht viel mehr ist als die dumpfe stumpfe Form des immerwährenden Selbstbetrugs und der Lebenslüge oder wirklich, sehr wirklich ein emphatischer Sprung in eine andere Wirklichkeit, die in aller Intensität tatsächlich existiert und vollkommen und wahr ist. Und das ist schön.
YVONNE GEBAUER
Yvonne Gebauer, 1972 geboren, studierte Germanistik, Philosophie, Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Seit 1992 arbeitet sie in Oper und Schauspiel, u.a. mit Johannes Schaaf, Stefan Bachmann, Felix Ensslin, Johan Simons, Claus Guth. Von 1993 bis 1996 arbeitete Yvonne Gebauer als feste Mitarbeiterin von Kazuko Watanabe. Von 1996 bis 2003 war sie Dramaturgin von Hans Neuenfels, mit dem sie in Schauspiel und Oper kontinuierlich zusammengearbeitet hat. Von 2001-2009 war sie freie Mitarbeiterin der Süddeutschen Zeitung/Literatur. Von 2005 bis 2007 Dozentin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, 2009 Dozentin an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Seit 2009 arbeitet sie als freie Bilddramaturgin für die Bayerische Staatsoper in München und ist als Dramaturgin mit Christof Loy u.a. an den Opernhäusern in Amsterdam, Genf und Stockholm tätig gewesen.